Es ist wieder so weit: Sandra Liechti (Name geändert) will nur noch unter die Bettdecke. Sich verstecken vor der Welt. Der Grund: Ihre Chefin hat einen Text von ihr als «unstrukturiert» beurteilt. Sandra Liechti macht ein Praktikum bei einer Menschenrechtsorganisation. Die Studentin hat ständig Angst, nicht gut genug zu sein. Deshalb war sie überglücklich, dass sie bisher stets gute Rückmeldungen bekam. Bis sie diese Medienmitteilung schreiben musste. Jetzt ist es vorbei mit ihrem Selbstwertgefühl. «Offensichtlich bin ich zu dumm für die Arbeitswelt», sagt die 28-Jährige.
Solche Geschichten hört Esther Huser oft. Die Psychologin bietet in Zürich Selbstwerttrainings an. «Menschen ohne Selbstwertgefühl glauben nicht an ihre Fähigkeiten.» Von Kritik würden sie sich kaum erholen. Das bremst die Karriere. «Wenn der Chef jemanden für eine schwierige Aufgabe sucht, schrecken sie zurück», sagt Huser.
Doch auch in der Chefetage gebe es Leute mit wenig Selbstwertgefühl, so die Psychologin Regula Häberli. «Ein souverän wirkender Vorgesetzter kann sich innerlich klein fühlen.» Deshalb renne er der Bestätigung von aussen hinterher. Innere Bedürfnisse, etwa nach mehr Zeit mit der Familie, gingen unter.
Das kann Folgen haben. Ulrich Orth, Assistenzprofessor für Psychologie an der Uni Basel, sagt: «Fehlendes Selbstwertgefühl ist eine mögliche Ursache von Depressionen.» Orth hat vor vier Jahren Daten von 674 Kindern in den USA analysiert. Sie waren einmal als 10- und einmal als 12-Jährige befragt worden. Resultat: Kinder, die mit zehn Jahren unzufrieden mit sich waren, hatten mit zwölf überdurchschnittlich viele Depressionssymptome entwickelt. Weitere Studien mit Jugendlichen und Erwachsenen bestätigen den Zusammenhang.
Wissenschafter gehen davon aus, dass Menschen mit tiefem Selbstwert negativen Gedanken nachhängen. Zudem fehlt ihnen oft die soziale Unterstützung, was wiederum Depressionen begünstigt. Orth hat zudem Studien mit Erwachsenen gemacht, die belegen: Personen mit tiefem Selbstwertgefühl haben unglücklichere Beziehungen.
«Viele missachten ihre eigenen Wünsche»
Das hat Caroline Meier (Name geändert) erlebt. Die 42-Jährige hatte eine einzige längere Partnerschaft. «Ich habe nur gemacht, was er wollte», sagt sie. Etwa beim Essen. «Eines Abends sollte ich kochen. Mein Freund sass vor dem PC. Ich wusste nicht, welches Menü er wünschte. Doch ich traute mich nicht, ihn zu stören. Als er endlich vom PC aufstand, war er sauer. Weil ich nichts gekocht hatte. Er sagte, ich hätte ihn fragen sollen.» Die Beziehung ging auseinander.
Das sei ein Teufelskreis, sagt Therapeutin Huser. «Viele Patientinnen denken, sie seien schlechte Partnerinnen, und missachten deshalb eigene Wünsche.» Das führe zu Frust, die Beziehung scheitere und die Frauen denken: «Ich wusste ja, dass ich eine schlechte Partnerin bin.»
Doch Caroline Meier hat auch keine Freundinnen. Sie möchte gerne in einem Kirchenchor singen, um neue Leute kennenzulernen. Manchmal ist sie kurz davor, an eine Probe zu gehen, und bleibt doch zu Hause. «Dort schauen mich sicher alle merkwürdig an und denken, wie ist denn die angezogen?», sagt sie. Die anderen Frauen seien viel eleganter. «Ich wirke daneben wie ein kleines Mädchen.»
Oft haben Eltern eine Mitschuld
Meier gibt ihren Eltern einen Teil der Schuld an ihren Problemen. «Sie sagen mir bis heute, was ich falsch mache.» Etwa am Geburtstag. Bald wird Caroline Meier 43. Sie möchte mit den Verwandten in ein Restaurant: «Die Drinks wollte ich übernehmen. Das Essen sollten sie selber bezahlen.» Doch die Eltern fanden das peinlich. Prompt bekam sie ein schlechtes Gewissen und zahlt nun alles.
Auch Sandra Liechtis Verhältnis zu den Eltern ist schwierig. Nur Leistung zählt: «Brachte ich ein gutes Zeugnis heim, klopfte mein Vater mir auf die Schultern.» Bei schlechten Noten heisse es, sie habe zu wenig geleistet.
Eine amerikanische Studie von 1998 mit 3800 Zwillingspaaren zeigt: Das Selbstwertgefühl wird zu einem Drittel durch die Gene beeinflusst. Den Rest machen persönliche Erfahrungen aus.
Die Eltern spielen eine grosse Rolle. Die Amerikanerin Tracy de Hart hat 2006 in einer Studie mit 219 Teilnehmern gezeigt: Das tiefste Selbstwertgefühl haben Kinder mit strengen Eltern, die oft strafen, aber selten Liebe zeigen. Psychologin Häberli sagt: «Solche Kinder denken, sie hätten einen Mangel.» Diesen versuchten sie selbst als Erwachsene mit Leistung wettzumachen oder speziell lieb zu sein.
Nach der Jugendzeit verändert
sich das Selbstwertgefühl nur noch wenig. Der Basler Wissenschafter Orth hat Langzeitdaten von 3600 Personen verglichen und sagt: «Wer mit 40 ein tiefes Selbstwertgefühl hat, wird es wahrscheinlich auch mit 50 noch haben.» Ob ein gutes oder schlechtes Selbstwertgefühl: Bis etwa 60 steigt es noch etwas an, danach sinkt es wieder. Das habe vor allem mit dem abnehmenden Einkommen nach der Pensionierung und der schlechteren Gesundheit zu tun.
Der Mensch kann sein Selbstwertgefühl jedoch durch Üben verbessern (siehe Tabelle Seiten 14/15). Die Rezepte klingen einfach: «Erfolgsfixierte Leute sollten lernen, gut für sich zu sorgen», sagt Psychologin Regula Häberli. Es sei wichtig, auch Dinge zu tun, die einzig ein gutes Gefühl gäben. Vielleicht koche der Karrieremann gerne für Freunde oder liebe die Natur. «Wenn ein Erfolgsmensch seine Freizeit auf einmal geniesst und sich wohlfühlt, hilft ihm das, die Sucht nach äusserer Anerkennung zu überwinden», sagt Häberli. «Denn wer auf den Geschmack eines guten Lebensgefühls kommt, gibt es nicht mehr so schnell auf.» Doch häufig hätten Klienten keine Ahnung, was sie überhaupt mögen. Weil die Eltern ihnen von klein auf diktiert hätten, wie sie zu sein hätten. Dann lohne sich eine Therapie, um zu experimentieren und zu reflektieren.
Häberli konzentriert sich in der Therapie auf das Leben, das der Klient führt. Sie analysiert, wann er fremde Erwartungen erfüllt, wo er sich überfordert. Dann ermutigt sie ihn dazu, sich selber ernst zu nehmen und fremde Erwartungen auch zu ignorieren. «Der Klient soll lernen, dass er nicht immer allen gefallen muss, um zufrieden zu sein.»
Bei Esther Huser üben Patienten in Einzel- oder Gruppentrainings, das Gute zu sehen. «Das beginnt mit dem Blick in den Spiegel», sagt Huser. Wenn eine Frau zuerst denke: «Mein Bauch ist flach», und erst danach, «mein Po ist zu dick» habe das eine andere Wirkung, als wenn sie sofort auf die Problemzone schaue.
Patienten mit Partnerschaftsproblemen lernen, ihre Wünsche zu äussern, etwa, was sie essen möchten oder wo sie Ferien machen wollen. «Für den anderen Menschen werden sie so greifbarer», sagt Huser, «und verschaffen sich Respekt.»
Dass es sich lohnt, am Selbstwertgefühl zu arbeiten, zeigt das Beispiel von Caroline Meier. Kurz vor Redaktionsschluss schickt sie dem Gesundheitstipp ein E-Mail. Sie habe ihren ganzen Mut zusammengenommen und sich nun an eine Probe des Kirchenchors gewagt. Sie freut sich: «Das Singen macht Spass.»
Aufruf: Wie stärken Sie Ihr Selbstwertgefühl?
Schreiben Sie uns Ihre Strategien: Redaktion Gesundheitstipp,
«Selbstwertgefühl»,
Postfach 277, 8024 Zürich,
redaktion@gesundheitstipp.ch
Umfrage: Wie hoch ist Ihr Selbstwertgefühl?
Stefan Angehrn (49), ehemaliger Boxprofi, schätzt sein Selbstwertgefühl ziemlich hoch ein.«Ich bin stolz auf mich. Denn ich habe zweimal um die Weltmeisterschaft gekämpft. Das macht mich zum besten Schweizer Boxer der letzten 100 Jahre, auch wenn ich nicht Meister wurde. Adolf Ogi wollte mir denn auch die Hand schütteln, als er Bundesrat war.»
Mona Petri (36), Schauspielerin, Altenpflegerin, schätzt ihr Selbstwertgefühl mal gut, mal schlecht ein. «Mein Selbstwertgefühl wackelt. Zum Beispiel, wenn meine neunjährige Tochter will, dass ich sie ins Bett bringe, dabei sollte ich längst an der Probe sein. Wenn es dann noch keine Milch im Kühlschrank und 231 unbeantwortete Mails auf dem PC hat, fühle ich mich zerrissen, weil ich auf alle Seiten nicht genüge.»
Gimma (33), Musiker, schätzt sein Selbstwertgefühl momentan beruflich und persönlich hoch ein. «Seit ich klein war, kümmerte ich mich um meine Mutter. Nur ging es ihr nie besser – ich fühlte mich unfähig. Um die 30 verlor ich die Kontrolle, trank zu viel, fühlte mich, als würde ich mich auflösen. Ich ging in die Psychiatrie. Das half. Und ich kanalisierte Gefühle in der Musik und hatte Erfolg. Das hat mich bestärkt. Jetzt fühle ich mich besser.»
Ellen Ringier (61), Herausgeberin «Fritz + Fränzi», schätzt ihr Selbstwertgefühl höher ein als vor zehn Jahren. «Wenn ich in einer Diskussion unterliege, gibt mir das einen Stich. Denn ich habe das Gefühl, ich müsste in allen Gebieten, zum Beispiel in der Kunst, sattelfest sein. Das liegt an meinem Vater. Während meiner Jugend sagte er immer, ich ‹blöffe› zu viel und sei nicht fleissig.»