Inhalt
Gesundheitstipp 12/2000
01.12.2000
Im Traum erleben wir die unwahrscheinlichsten Abenteuer, begegnen uns fantastische Gestalten. Wer sich seinen Traumbildern öffnet, begibt sich auf eine spannende Reise in ein Land jenseits von Raum und Zeit.
Nicole Tabanyi redaktion@puls-tip.ch
Christine Kiesler hat das Träumen aufgegeben. Im letzten Traum, den sie hatte, riss ihr ein grässliches Monster den Kopf ab. Schreiend wachte die Direktionsassistentin auf, zerzaust vom hoffnungslosen Kampf mit der Bestie....
Im Traum erleben wir die unwahrscheinlichsten Abenteuer, begegnen uns fantastische Gestalten. Wer sich seinen Traumbildern öffnet, begibt sich auf eine spannende Reise in ein Land jenseits von Raum und Zeit.
Nicole Tabanyi redaktion@puls-tip.ch
Christine Kiesler hat das Träumen aufgegeben. Im letzten Traum, den sie hatte, riss ihr ein grässliches Monster den Kopf ab. Schreiend wachte die Direktionsassistentin auf, zerzaust vom hoffnungslosen Kampf mit der Bestie. Ihr Nachthemd war nur noch ein verschwitzter Lappen, der an ihr klebte. Während Tagen sass ihr der Albtraum regelrecht in den Knochen. Zwei Jahre ist das her. Seither herrscht gespenstische Funkstille: Die Nächte sind düster und traumlos.
Auch Birgitta Bombeck kann sich nur selten an ihre Träume erinnern. Meistens sind es bloss schwarzweisse Fetzen, kleine Schatten, die übrig bleiben und denen sie wenig Bedeutung beimisst. Oder es sind Traum-Passagen, in denen die Verlagssekretärin Probleme aus ihrer Geschäftswelt löst. «Manchmal gehe ich darin auch einer repetitiven Handlung nach, wie eine Postbeamtin, die immer wieder stempelt - und zwar unglaublich schnell», gesteht die 35-jährige Zürcherin. Solche Hektik- und Stressträume kosten Nerven und bieten wenig Erholung. «Wenn es mir gut geht», meint Birgitta Bombeck, «dann habe ich über Monate Ruhe und schlafe wie ein Engel.»
Dass alle Menschen träumen, ist wissenschaftlich längst untermauert. Sogar Menschen, die an Gedächtnisverlust leiden, träumen. Doch mit dem Erinnern hapert es nicht nur bei ihnen. Meistens erinnern sich Menschen nur dann an ihre Träume, wenn in ihnen etwas Schreckliches oder etwas Seltsames passiert ist. Viele Menschen sind der Ansicht, dass Träume absurde Hirngespinste seien. Selbst der Volksmund warnt: «Träume sind Schäume», oder: «Was solls? Es war ja nur ein Traum.» Doch das ist ein Irrtum.
In letzter Zeit haben experimentelle Traumforscher nachweisen können, dass jeder Mensch in seiner Traumwelt ein «zweites Leben» führt. Und zwar nicht irgendein diffuses Doppelleben ohne Logik und Sinn, sondern eine Art Parallelexistenz, in der man sich auf neue Erlebnisse einlässt und spielerisch mit dem Dasein umgeht. Eines, in dem es zu- und hergeht wie in einem klassischen Drama. Dabei ist der Träumer Darsteller und zugleich Autor des Stückes. Die Dialoge erfindet er fortlaufend.
Ein aufregender Zustand. Jeder Traum könnte daher, so die Forscher, das «Wach-Bewusstsein» anregen und es zu einer höheren Einsicht führen. Denn was das «Traum-Ich» mit Leichtigkeit schafft, ist dem «Alltags-Ich» oft unmöglich. Doch Achtung: Träume lassen sich zu diesem Zweck nicht einfach so einfangen.
Der Puls-Tip machte die Probe aufs Exempel. Er legte vier Psychoanalytikern den Traum einer 35-jährigen Frau zur Deutung vor. Die vom Puls-Tip angefragten Jungianer wollten leider nicht mitmachen. Eine Traumdeutung ohne ein Gespräch mit der Träumerin sei nicht möglich, argumentierten sie.
Träume können das Leben verändern
«Es gibt Wissenschaftler, die behaupten, Träume seien nichts als Nebengeräusche des Gehirns», sagt der Psychologe und Viel-Träumer Christoph Gassmann, «doch die Traumwelt ist wie ein scheues Tier. Sobald man es lockt, sich ihm sorgfältig nähert, kommt es auf einen zu. Verhält man sich falsch, so springt es weg und man muss wieder von vorne beginnen.»
Christoph Gassmann weiss, von welchem Abenteuer er spricht. Früher schlief er wie ein Stein und hatte keine Ahnung, dass er träumte. Dann kam die erste Krise im Internat mit 18 und ein erster Glücks-Traum, der die mutlose Stimmung schlagartig wegfegte.
Stückchen für Stückchen ruft er sich seither seine Träume in Erinnerung. In einem Traumtagebuch hält er fest, was ihm nächtens widerfährt. Manchmal breitet er im Traum seine Flügel aus und hebt ab, weil ihm gerade jemand auf den Fersen ist, den er nicht so gerne mag. «Da muss ich haargenau navigieren und aufpassen, dass ich nicht hängen bleibe in den Eisenbahndrähten und Hochspannungsleitungen», sagt der 46-jährige Zürcher. Inzwischen gelingen ihm diese Traum-Flüge recht gut. Ab und zu ist der Himmel frei und er schwebt kühn durch die Lüfte.
Ein ganz normaler Bestandteil des Lebens
Von Traumsymbollexika und voreiligen Deutungen solcher Flugträume hält er allerdings wenig. Ihn interessiert die Traumwelt als solche, das Erlebnis im Traum. Mit seiner Traumarbeit und seiner Publikation «Träume erinnern» (Walter Verlag) möchte er den Traum vom Stigma der Therapie und des Krankseins befreien. «Der Traum ist ein normaler und wichtiger Bestandteil unseres Lebens, der kaum beachtet wird», schreibt er. Darum schlägt er vor: «Jeder soll seine Träume wie ein Hobby pflegen. Es gibt Leute, die Briefmarken sammeln. Sie könnten auch Träume sammeln, das gäbe mit der Zeit einen bunten Strauss.»
Ohne Traumdeutung keine Psychoanalyse
Vor genau 100 Jahren machte sich als erster der Wiener Nervenarzt Sigmund Freud daran, den Schleier vom Geheimnis der Träume zu lüften. Er entdeckte einen riesigen Schatz, den er vorsichtig hob und analysierte. Mit seinem Jahrhundert-Werk «Die Traumdeutung» hat Sigmund Freud die Psychoanalyse ins Leben gerufen.
Freuds Anhänger gehen noch heute davon aus, dass jeder Mensch ein bewusstes und ein unbewusstes Ich in sich trägt. Aufgabe des Analytikers ist es, den Weg zum Unbewussten zu finden. Der Grund: Dort sollen sich die Triebe verstecken, die mit den Normen der Gesellschaft nicht vereinbar sind. Deshalb verbannen die Menschen ihre Triebe dorthin. Auf der Couch soll der Patient frei erzählen und so diese verdrängten Konflikte ans Tageslicht holen. Träume können dabei eine wichtige Hilfe sein. Freud sieht in ihnen auch immer die Erfüllung eines Wunsches.
Nach Freud haben die Neurobiologen im Traumland das Zepter übernommen. Seit rund vier Jahrzehnten gewinnen sie immer neue Erkenntnisse über das träumende Hirn. Sie können die Nachtarbeit des Gehirns auf Diagrammen sichtbar machen. Ergebnis: Beim Träumen sind drei Teile des Gehirns aktiv: das Sehzentrum, das Gefühlshirn und der Hippokampus, der für die Erinnerung wichtig ist.
Damit bestätigen die Neurobiologen Freuds These: Träume sind gefühlsbetont und irrational, als ob sie von unserem «unbewussten Ego» gesteuert würden.
Über das «Wie» des Träumens weiss man heute gut Bescheid. Eine Frage bleibt jedoch immer noch unbeantwortet: Warum träumen wir?
«Träumen ist ein Überlebenstraining», sagt die Psychoanalytikerin und Jungianerin Verena Kast, «wir versuchen damit Angst- und Aggressions-Aspekte unseres Lebens zu verarbeiten. Zudem wagen wir Dinge, die wir in der Wirklichkeit nie tun würden.» Als wesentliche Unterschiede zwischen Traum und Realität hebt die Titularprofessorin für Psychologie an der Uni Zürich folgende Merkmale hervor:
- Der Traum ist chaotischer als die Realität und folgt eigenen Gesetzmässigkeiten. Erst wenn der Träumer aufwacht, hat er das Gefühl, in einer seltsamen Welt gewesen zu sein.
- Die Grenzen von Raum und Zeit können überschritten werden. Man kann einer Person begegnen, die vor 40 Jahren gestorben ist, man kann sich aber ebenso gut im Jahr 2050 befinden.
- Gelegentlich macht das Traum-Ich Dinge, die das Alltags-Ich nie tun würde.
Zu diesen Dingen gehören - zweifellos - die berüchtigten Nacktspaziergänge. Träume, in denen der Ich-Erzähler quietschfidel und splitternackt herumspaziert, ohne sich dabei eine Blösse zu geben. Oftmals ist sich der Ich-Erzähler seiner Nacktheit gar nicht erst bewusst. Er wird von den gut gekleideten Traumgestalten auch nicht wahrgenommen.
Archetypen: Führer in der Welt des Unbewussten
Während Freud meist auf den sexuellen Gehalt der Träume hinwies - wie im Fall der Nacktträume auf den «infantilen Impuls zum Exhibitionismus» -, standen beim Schweizer Psychiater C. G. Jung die so genannten Archetypen im Zentrum. Das können Hexen sein, gute Feen, Schlangen, Drachen und Dämonen.
Diese Ursymbole und Fabelwesen sind nach Jung besonders aussagekräftig. Sie sind Symbole aus dem gesammelten Wissen der Menschheit. In ihnen könne sich auch die «Weisheit des Unbewussten» ausdrücken. Jung war überzeugt, dass manche Träume prophetischer Natur sind. Obwohl prophetische Träume selten sind, wird manchenorts von ihnen berichtet. So soll Cäsars Frau geträumt haben, ihrem Gatten drohe Lebensgefahr. Anderntags flehte sie ihn an, nicht ans Forum zu gehen - vergebens. Cäsar hörte nicht auf sie und wurde erstochen.
Das sind die traumkiller:
Können Sie sich nicht an Ihre Träume erinnern? Vielleicht spielen folgende Faktoren eine Rolle.
- Desinteresse an Träumen ist Traumkiller Nummer eins. Wer gleich aus dem Bett hetzt, gibt der Traumerinnerung keine Chance. Wer liegen bleibt, kann den letzten Traumzipfel vielleicht noch schnappen.
- Zu viel Alkohol am Vorabend vernebelt die Träume.
- Schlafmittel vermindern das Traum-Erinnerungsvermögen. Sie legen sich wie ein Schleier über den Traum und verhüllen ihn.
- Grosse Müdigkeit. Wer halb tot ins Bett fällt, schläft wie ein Stein: traumlos und tief.
- Wecker. Das schrille Getue des Weckers zerstört das feine Gewebe des Traumes. Beim Ausschlafen gelingt es besser, die Träume in das Wach-Bewusstsein hinübergleiten zu lassen.
- Viel Fernsehen. Hat sicherlich einen Einfluss auf den Trauminhalt. Wer immer dieselbe Fernseh-Serie sieht, wird womöglich auch von ihr träumen und andere Trauminhalte verdrängen.