Die Grosszehe der achtjährigen Melanie (alle Kindernamen geändert) quetscht sich quer an die harte Kante des Fussbettes der Birkenstock-Sandale. Sie bedrängt dabei die anderen Zehen, als sei der Fuss in die Schuhform gepresst: Die Achtjährige hat bereits einen Hallux valgus.
Melanies Fuss ist krankhaft verformt. Der vermutliche Grund: Sie hat seit der frühen Kindheit immer wieder zu kleine Schuhe getragen. Melanie ist kein Einzelfall. Jedes fünfte Kind hat eine Grosszehe, die unnatürlich verbogen ist, Anzeichen eines beginnenden Hallux valgus. Dies zeigt eine Messung an 248 Kindern zwischen sechs und zehn Jahren, die der Gesundheitstipp in zwei Schulhäusern im Kanton Zürich machen liess:
- in der Primarschule Chapf, Gossau, und
- in der Primarschule Götzen in Rafz.
Der Kinderschuh-Spezialist und Sportwissenschaftler Wieland Kinz nahm die Masse von allen Füssen, Schuhen und Finken. Der Arzt Patrick Paulet von der Zürcher Uniklinik Balgrist untersuchte zusätzlich die Füsse von 153 Kindern.
Die Resultate (siehe auch Grafik im pdf):
- Fünf Kinder hatten eine verbogene Grosszehe, die sich um 15 Grad und mehr neigte: einen Hallux valgus.
- 40 Kinder hatten bereits eine deutliche Schiefzehe, die sich um 10 bis 14 Grad neigte.
- Von 153 Kindern hatten lediglich 31 Kinder gerade, gesunde Zehen.
Kein Wunder, denn mehr als die Hälfte der sechs- bis zehnjährigen Kinder trugen zu kurze Schuhe (siehe auch Grafik im pdf). Bei fast jedem vierten Kind waren die Schuhe zwei Grössen und mehr zu kurz. Ein Kind hatte seine Füsse gar in Schuhe gezwängt, die vier Nummern zu klein waren. Es hätte drei Zentimeter längere Schuhe gebraucht!
Fast zwei Drittel der Kinder trugen auch zu kleine Finken. Oft waren diese zwei Grössen und mehr zu klein. Hausschuhe zwängen Kinderfüsse genauso ein wie Strassenschuhe.
Je kleiner der Schuh, desto schiefer die grosse Zehe
Fachleute sind entsetzt. Selbst Spezialist Thomas Böni hätte nicht mit diesem Ausmass gerechnet. Doch er hat eine Erklärung dafür: «Kinderfüsse sind sehr weich, die Gelenke noch nicht ausgereift. Deswegen verformen sich die Füsse, wenn ein Kind oft zu kurze Schuhe trägt.» Das zeigte Kinderschuh-Spezialist Wieland Kinz schon 2003 im Auftrag der österreichischen Regierung. Er untersuchte Tausende Kinderfüsse: Je kleiner der Schuh, desto schiefer die grosse Zehe.
Die Resultate erschüttern auch die Leiterinnen der Schulen, an denen der Gesundheitstipp messen liess. «Ich dachte, das käme nur hin und wieder vor», sagt Hanne Hofmann aus Rafz. Ihre Kollegin Ursula Schmutz aus Gossau: «Gerade jetzt, wo viele Kinder neue Winterschuhe bekommen haben, erschrecken mich die schlechten Ergebnisse.»
Der Gesundheitstipp warnte bereits vor Jahren vor zu kleinen Kinderschuhen (Ausgabe 4/2002). Er liess Schuhe und Finken von Kindergärtlern messen. Auch da: Mehr als jedes zweite Kind hatte zu kurze Schuhe und Finken. Offenbar hat sich seither wenig geändert.
Ein Fuss muss mindestens zwölf Millimeter Spielraum im Schuh haben, damit er sich natürlich bewegen kann. «Die Fusssohle senkt sich beim Laufen leicht, der Fuss rollt über den zweiten Zeh ab», erklärt Christian Kryenbühl, Leiter der Abteilung für Sportbiomechanik an der Sport-Clinic Zürich. «Und für dieses Abrollen braucht der Fuss Platz.»
Kind bemerkte Kieselsteine im Schuh nicht
Eltern habens nicht leicht: Wenn sie ihr Kind fragen, ob die Schuhe noch passen, bekommen sie meist keine brauchbare Antwort. «Kinder spüren einfach noch nicht, ob sie der Schuh drückt», erklärt Wieland Kinz. «Ihr Nervensystem ist noch nicht genügend ausgereift.» Oft bemerken sie nicht einmal harte Gegenstände: Als der neunjährige Markus in Rafz für die Untersuchung seine Schuhe auszog, klackerte darin eine Handvoll Kieselsteine. Den ganzen Vormittag war er damit herumgelaufen – und hatte sie nicht gespürt.
So lassen unwissende Eltern ihre Kinder in den Fussschaden laufen. Die Schiefzehe ist nur ein erstes Anzeichen für die Qual, die später droht. Eine schwere Form davon ist der Hallux valgus mit entzündetem Gelenk. Die Schiefzehe gerade zu richten, erfordert oft eine Operation.
Eine weitere schwere Folge zu kleiner Schuhe sind Hammerzehen: zu schmerzhaften Krallen versteifte Zehen. Die falsche Belastung verformter Füsse hat zudem Folgen für Knie, Hüften und Wirbelsäule.
Das Problem liegt jedoch nicht nur darin, dass Kinder ihre Schuhe zu lange tragen: Immer wieder verkaufen Schuhläden viel zu kleine Schuhe. Wie bei der zehnjährigen Lena aus Gossau. Ihre Füsse sind länger als ihre nagelneuen Stiefel! Dennoch ist das Mädchen überzeugt: «Die passen gut.»
Um die richtige Grösse herauszufinden, genügt das Vorne-
auf-den-Schuh-Drücken oft nicht. Dann rollen sich die Kinderzehen nämlich reflexartig ein. Es fühlt sich an, als sei noch Platz im Schuh. Wieland Kinz: «Die Verkäuferin muss auch die Innenlänge des Schuhs messen.» Eltern können dies auch selbst mit einer Schablone oder dem Messgerät «Plus 12» tun (siehe Tipps unten).
Zudem: Schuhverkäufer messen oft nur den Fuss und bestimmen anhand seiner Länge die Schuhgrösse. Doch die stimmt fast nie. Bei der Gesundheitstipp-Untersuchung waren nur 8 von 100 Schuhpaaren korrekt angeschrieben. Bei den Finken stimmten gerade 2 von 100 Paaren mit der Grössen-Messskala überein. Spezialarzt Thomas Böni ist entsetzt: «Da versündigen sich die Schuhproduzenten an den Kinderfüssen.»
Das Beste für Kinderfüsse bleibt das Barfusslaufen. Wer barfuss auf unebenen Böden läuft, hat starke Füsse und kaum je Schmerzen durch Verformungen. Bewegungs- und Sportwissenschaftler Christian Kryenbühl rät Eltern, ihre Sprösslinge möglichst oft barfuss herumtollen zu lassen. Dies stärke die Muskeln. «Zusätzlich hält spielerische Fussgymnastik die Füsse gesund, wie Murmeln mit den Füssen einsammeln oder Tücher hochheben.»
Auch Antirutsch-Socken müssen genug gross sein
Das Erkältungsrisiko schätzt Kinz als gering ein: «Kinder toben herum, das gibt warm.» Für den Winter empfiehlt er Antirutsch-Socken statt Finken. Auch die Schulleiterinnen der Primarschulen Rafz und Gossau wollen den Eltern Stoppersocken empfehlen. Gross genug müssen aber auch sie sein – sonst quetschen sie die Füsse ebenfalls.
Tipps: So finden Sie den richtigen Schuh für Ihr Kind
- Der Fuss sollte mindestens 12, maximal 17 mm Spielraum haben (Daumenbreite).
- Messen Sie mit einer Schablone: Zeichnen Sie den Fussumriss des stehenden Kindes auf einen Karton. Fügen Sie an der längsten Zehe 12 mm Abstand hinzu und schneiden Sie die Schablone aus. Passt sie in den Schuh, passt er.
- Kinderfüsse wachsen etwa 1 mm pro Monat.
- Prüfen Sie regelmässig, ob die Schuhe noch passen: Bei Ein- bis Dreijährigen alle zwei Monate, bei Drei- und Vierjährigen alle vier Monate, bei Älteren alle fünf Monate.
- Bedenken Sie: Beide Füsse sind unterschiedlich lang.
- Die Laufsohle der Schuhe sollte flexibel sein.
- Die Schuhspitze muss breit sein, die Ferse rund.
- Geben Sie Ihrem Kind ruhig gebrauchte oder günstige Schuhe.
Buchtipp: Wieland Kinz, «Kinderfüsse – Kinderschuhe», Ueberreuter-Verlag, ca. Fr. 15.–.