Viele Leute haben die Angewohnheit, im Tram oder im Bus zu essen. Im Morgenstress schlingen sie im Stehen zwei Brötli hinunter. Am Abend verdrücken sie beim TV-Krimi eine Packung Guetsli. Oder sie tun es im Frust nach einem schlechten Tag. Das heisst: Oft isst man, obwohl man gar keinen Hunger hat. Und häufig realisiert man dabei nicht, wie viel man isst. Die Folge: Die Fettpölsterchen unter den Rippen wachsen.
Wer sein Gewicht halten will oder sogar abnehmen möchte, sollte seinen Blick nach Asien richten – zum Zen-Buddhismus. Das Zauberwort dieser Lehre heisst Achtsamkeit. Das bedeutet: Beim Essen konzentriert man sich auf jeden Bissen. Damit erlangt man die Kontrolle über das eigene Essverhalten – und isst dadurch weniger. Lucia Winzap, klinische Ernährungsberaterin und Dozentin an der Berner Fachhochschule, sagt: «Ziel ist es dabei, sich mit allen Sinnen auf das Essen zu konzentrieren – und auf nichts anderes.»
Dazu gehört, sich nicht nur am Geschmack von Speisen zu erfreuen, sondern auch Farben, Aromen, Gerüche und Konsistenz wahrzunehmen. Ausserdem sollte man auf die Hunger- und die Sättigungssignale des Körpers achten. Auf diese Weise isst man nicht nur langsamer – man spürt auch deutlicher, wenn man satt ist. Lucia Winzap: «So erkennt man, ob die eigenen Essgewohnheiten eine andere Funktion haben als zu sättigen.»
Bewusst essen hilft gegen Heisshungerattacken
Untersuchungen haben gezeigt: Diese Art zu essen wirkt. So kann man beispielsweise Heisshungerattacken und impulsives Essen verhindern. Das zeigt eine grosse Übersichtsstudie, die das englische Fachblatt «Nutrition Research Reviews» im Jahr 2017 veröffentlichte. Die Essmethode hatte sogar bei schweren Essstörungen wie Anorexie einen positiven Einfluss, wie englische Forscher letztes Jahr berichteten.
Hinzu kommt: Mit dieser Essmethode nimmt man ab. 2019 kam eine englische Übersichtsarbeit zum Schluss, dass Achtsamkeit beim Essen kurzfristig so gut wirkt wie ein Diätprogramm mit weniger Kalorien.
Auf Dauer profitieren allerdings nicht alle von der Methode. Lucia Winzap sagt: «Die Ergebnisse zeigen, dass langfristig nur etwa 20 Prozent ihr neues Gewicht halten konnten.» Grund dafür ist oft ein Rückfall in alte Verhaltensmuster. Für Lucia Winzap ist klar: «Achtsam essen eignet sich nicht als Instantmethode zum Abnehmen oder zum Behandeln von Essstörungen.»
Die Ernährungswissenschafterin Lilian Cheung von der Harvard T. H. Scan School in Boston (USA) hat mit dem inzwischen verstorbenen buddhistischen Lehrmeister Thich Nhat Hanh ein Buch über die Methode verfasst. Es enthält viele Tipps, wie man achtsames Essen effizient in den Alltag integriert. Für Lilian Cheung steht fest: Wenn man abnehmen will, sind unrealistische Ziele keine Hilfe. «Man sollte sich vornehmen, pro Woche nicht mehr als ein Kilo abzunehmen.»
Die Methode lässt sich in den Alltag integrieren
Die Erfolgsaussichten sind zudem grösser, wenn man Achtsamkeitsübungen in den übrigen Alltag integriert. Das heisst zum Beispiel im Büro immer wieder innehalten und drei Mal tief durchatmen. Cheung empfiehlt, dazu eine Erinnerungsmeldung auf dem Smartphone einzurichten. Beim Joggen sollte man zudem keine Musik hören, sondern sich auf das Atmen konzentrieren.
Verschiedene Sportarten und Entspannungsmethoden fördern die achtsame Haltung. Dazu zählen die asiatische Kampfkunst TaiChi, die Heilslehre Qigong, Yoga oder verschiedene Meditationsarten (Gesundheitstipp 4/2024).
So essen Sie ohne Frust und Stress
- Halten Sie kurz inne, bevor Sie den Kühlschrank öffnen.
- Überlegen Sie sich, ob Sie tatsächlich Hunger haben oder nur schnell etwas gegen den Frust essen möchten.
- Bei Hungerattacken: Gehen Sie kurz an die frische Luft, telefonieren Sie mit einer Freundin, oder lutschen Sie ein kleines Stück Bitterschokolade.
- Zeitungen und Smartphones haben am Esstisch nichts zu suchen.
- Auch Konflikte haben am Esstisch keinen Platz.
- Benutzen Sie zum Essen keine grossen Teller. Schöpfen Sie kleine Portionen.
- Essen Sie ab und zu mit Stäbchen oder Kinderlöffeln.
- Füllen Sie den Teller zur Hälfte mit Gemüse.
- Bevor Sie den ersten Bissen nehmen: Atmen Sie drei Mal ein und aus.
- Nehmen Sie den ersten Bissen in den Mund, halten Sie erneut kurz inne.
- Legen Sie Messer und Gabel zwischendurch immer wieder kurz hin.
- Nehmen Sie nur kleine Bissen.
- Sprechen Sie in Gesellschaft über das Essen, das auf dem Teller liegt.
- Beschreiben Sie die Farben und die Gerüche, die Sie beim Essen wahrnehmen.
- Hören Sie spätestens dann auf zu essen, wenn Sie das Gefühl haben, der Hunger sei zu 80 Prozent gestillt.
- Lassen Sie keine Hauptmahlzeiten aus, damit Ihr Hunger nicht zu gross wird.
- Dokumentieren Sie in einem Tagebuch, was Sie gegessen haben und wie Sie sich dabei gefühlt haben.
Buchtipp: Thich Nhat Hanh und Lilian Cheung: «Achtsam essen – achtsam leben», Verlag Knaur Leben, ca. 30 Franken