Die 72-jährige Erika Höhn aus Hinwil ZH hat einen faustgrossen Tumor in der linken Hüfte. «Die Ärzte stellten einen vermutlich gutartigen Tumor fest», sagt sie. Doch genau sagen könne man das erst nach der Operation. Der Termin stand bereits fest: Am 24. März hätte ein Chirurg in Rapperswil SG den Tumor ambulant entfernen sollen.
«Eine Woche vor der Operation fragte ich in der Praxis nach, ob der Chirurg sie trotz der Corona-Pandemie durchführen könne», erzählt Erika Höhn. «Es hiess, das sei kein Problem.» Doch kurze Zeit später sagte der Chirurg den geplanten Eingriff ab: Er dürfe nicht mehr operieren.
«Ich kann nicht mehr richtig sitzen»
Der Grund für die verschobene Operation: Der Bundesrat verbietet mit seiner Covid-19-Verordnung den Spitälern und Arztpraxen alle Untersuchungen, Behandlungen und Eingriffe, die nicht «dringend angezeigt» sind. Damit will die Landesregierung Personal, Spitalbetten, Medikamente und Verbrauchsmaterial frei machen für Corona-Patienten. Der Bundesrat schreibt, dass andere Patienten jetzt «geringe Beschwerden und Beeinträchtigungen» in Kauf nehmen müssten. Ob ein Eingriff notwendig ist, entscheiden die Ärzte.
Die Situation belastet Erika Höhn allerdings stark. Sie hat Schmerzen im Liegen und beim Sitzen. «Ich kann nicht mehr richtig auf einem Stuhl sitzen», sagt sie. Die andauernde Ungewissheit macht ihr zu schaffen. «Das macht mir Angst.» Manchmal werde der Tumor an der Hüfte heiss und entzündet. «Aber jetzt muss ich einfach abwarten. Ich kann ja nichts tun.»
Fachleute kritisieren die Regeln des Bundesrats massiv. Ruth Baumann-Hölzle, Leiterin der Stiftung Dialog Ethik, kennt weitere Krebspatienten, die auf eine Behandlung warten: «Die Behörden muten diesen Patienten Schmerzen und Ängste zu.»
«Es ist problematisch, Kranke warten zu lassen»
Der Arzt Daniel Tapernoux von der SPO Patientenorganisation warnt: Die Vorschrift, Behandlungen zu verschieben, könne unter Umständen Patienten gefährden, die an anderen Krankheiten als Covid-19 leiden. Und der Zürcher Sportmediziner Jürg Kuoni sagt: «Es ist aus ethischer Sicht sehr problematisch, das ganze Gesundheitswesen auf eine Krankheit zu fokussieren und alle anderen Kranken warten zu lassen.»
Auch der 61-jährige Frank Tanner (Name geändert) hätte Mitte März im Berner Inselspital operiert werden sollen. Er hat einen Hirntumor. Wenige Tage vor dem Termin verschob das Spital den Eingriff um drei Monate. Das belastet den Patienten: «Ich muss noch länger mit dem Tumor im Kopf leben.» Die 72-jährige Elisabeth Bischof (Name geändert) leidet an einer Gebärmuttersenkung. Auch ihr Arzt hat die Operation kurzfristig abgesagt. Sie hat starke Beschwerden: Manchmal kann sie nur in liegender Position Wasser lösen.
Der Chirurg Marco Bueter vom Universitätsspital Zürich sagt: «Diese Fälle sind mit grossem Leid verbunden. Die Operationen sind dringlich und sollten so bald wie möglich durchgeführt werden.» Der Chirurg Peter Koch vom Kantonsspital Winterthur kritisiert: «Wenn Ärzte diesen Patienten den Eingriff verweigern, legen sie die Covid-19-Verordnung nicht korrekt aus.»
In den Spitälern hätte es noch genügend Platz
Pikant: Viele Spitäler könnten operieren – trotz der Corona-Pandemie. Denn sie haben viele freie Kapazitäten. Das zeigt eine Umfrage des Gesundheitstipp. Im Kantonsspital St. Gallen sind 350 Betten frei. Das ist rund die Hälfte aller Betten. Auch in den Spitälern der Berner Lindenhofgruppe war in der Woche vor Ostern nur die Hälfte von rund 390 Betten belegt. Die Zürcher Stadtspitäler Triemli und Waid führen aktuell 50 bis 60 Prozent weniger Operationen durch. Der Spitalverband H+ hat sich bei Gesundheitsminister Alain Berset dafür eingesetzt, dass er das Operationsverbot schnell lockert – damit es für die Patienten keine schweren gesundheitlichen Folgen hat.
Das Berner Inselspital sagt, es halte sich an die Vorgaben des Bundes. Patienten mit Hirntumoren, die eine schnelle Behandlung benötigen, behandle es «genauso zeitnah» wie vor der Pandemie.
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Tipps: So gehen Sie vor, wenn Sie eine Behandlung brauchen
Melden Sie sich beim Hausarzt oder im Spital, wenn Sie Beschwerden haben. Die Spitäler müssen notwendige Behandlungen weiterhin durchführen.
Bleiben Sie hartnäckig, wenn ein Spital Sie abweisen will. Sagen Sie klar, dass Sie eine Behandlung brauchen.
Will der Arzt eine Operation verschieben, muss er begründen, warum dies die Prognose nicht verschlechtert. Verlangen Sie diese Begründung.
Holen Sie telefonisch die Zweitmeinung eines anderen Arztes ein, wenn Ihr Arzt eine Operation verschieben will.