Familie Horvat (Name geändert) aus Seewis GR hat rund 90 000 Franken Schulden. Diese entstanden hauptsächlich durch die Aufnahme eines Privatkredits. Nachdem die Ehefrau ihren Job verloren hatte, konnte sie den Kredit nicht zurückzahlen.
Heute arbeitet der Vater Vollzeit als Maler, die Mutter zu 60 Prozent im Pflegeheim. Das reichte nicht, um alle offenen Rechnungen inklusive der offenen Kreditraten zu bezahlen. Auch der Krankenkasse ÖKK blieb das Ehepaar Geld schuldig. Zuletzt wurden Horvats erfolglos betrieben, die ÖKK erhielt einen Verlustschein. Damit kann sie das Ehepaar 20 Jahre lang jederzeit neu betreiben. Die Familie schuldet Prämien von rund 9000 Franken.
Steuergelder für nicht bezahlte Prämien
Laut Gesetz muss der Kanton der Kasse 85 Prozent der Verlustschein-Forderung bezahlen. Im Falle der Familie Horvat sind das rund 7650 Franken. Die Krankenkassen haben damit eine Staatsgarantie für unbezahlte Rechnungen. Das heisst: Am Schluss trägt der Steuerzahler das Betriebsrisiko der Krankenkassen.
Im Jahr 2015 mussten alle Kantone zusammen für unbezahlte Rechnungen die Summe von 285 Millionen Franken an die Krankenkassen bezahlen, so die Statistik des Bundesamts für Gesundheit. So hoch war diese Summe noch nie. Das ist aber weniger als ein Prozent der Gesamteinnahmen der Krankenkassen.
Graubünden: Liste mit Schuldnern
Obwohl die Steuerzahler die offenen Rechnungen zu 85 Prozent übernehmen, setzen neun Kantone die Verlustscheinschuldner auf eine schwarze Liste – darunter auch Graubünden. Wer dort eingetragen ist, erhält von der Krankenkasse nur noch Notfallbehandlungen vergütet. Was das heisst, ist im kantonalen Gesetz geregelt. Die Krankenkassen können so machen, was sie wollen. Familie Horvat musste so rund 6000 Franken für Gynäkologen, Spital und Arztkosten der Kinder bezahlen.
Fazit: Die Krankenkasse kassiert vom Kanton, muss der Familie aber nur Notfälle bezahlen. Die Familie wiederum kann keine Schulden abbauen, da sie die laufenden Arztkosten selber bezahlen muss. Die Fachstelle Schuldenberatung der Caritas kritisiert: «Die Krankenkassen verlangen vom Schuldner den vollen Betrag des Verlustscheins, obwohl sie vom Kanton 85 Prozent erhalten haben», so Rausan Noori, Anwältin von Caritas.
Thurgau: Vorschuss der Gemeinden
Falls nun die Prämienzahler die Schulden an die Kasse zurückzahlen, erstattet diese nur 50 Prozent an den Kanton zurück – obwohl sie 85 Prozent erhalten hatte. Das zeigt: Diese gesetzliche Regelung kann man nur damit erklären, dass die Krankenkassen im Parlament gut vertreten sind (siehe Kasten).
Dass es auch anders geht, zeigt eine Lösung in den Kantonen Basel-Landschaft und Neuenburg: Diese haben mit dem Branchenverband Santésuisse einen Vertrag geschlossen. Die Kantone kaufen die Forderungen der Krankenkassen zum Preis von 92 Prozent des Verlustscheins. Dafür sind die Kantone befugt, direkt mit dem Schuldner zu verhandeln und einen Teil der Schulden zu erlassen.
Anders im Kanton Thurgau: Hier schiessen die Gemeinden die ausstehenden Prämien vor, wenn eine Rückzahlung realistisch ist. Die Stadt Arbon TG zum Beispiel bearbeitet jährlich rund 550 solche Fälle. Laut Lukas Feierabend von der Stadt Arbon leisten über drei Viertel der Schuldner regelmässige Ratenzahlungen, um den Vorschuss an die Stadt zurückzuzahlen. Wer nicht bezahlt, wird erneut betrieben. Der Kanton Thurgau hat beim Bund eine Standesinitiative eingereicht. Diese fordert, dass die Kantone die Verlustscheine künftig für 90 Prozent der Schulden von den Kassen abkaufen können. Wenn die Kantone zahlen müssen, sei es sinnvoll, wenn sie auch selber das Inkasso betrieben.
Die Lobby der Krankenkassen
Im Parlament sind die Krankenkassen breit vertreten. Zum Beispiel SVP-Nationalrat Jürg Stahl: Er ist Präsident der Gesundheitskommission des Nationalrats. Diese hat die Änderung im Krankenversicherungsgesetz erwirkt, sodass die Kantone 85 Prozent der unbezahlten Krankenkassenrechnungen bezahlen müssen. Stahl ist hauptberuflich in der Geschäftsführung der Groupe Mutuel tätig.
Sein Kommissionskollege Martin Candinas (CVP) arbeitet bei der Helsana.
Der Präsident der Gesundheitskommission des Ständerates, Konrad Graber (CVP), ist Verwaltungsrat der CSS und von deren Tochter Arcosana.
Insgesamt haben 9 der 25 Mitglieder der Gesundheitskommission des Nationalrats Verbindungen zu Krankenkassen. Dies kann Lobbywatch.ch entnommen werden. Bei der entsprechenden Ständeratskommission sind es 5 von 13 Mitgliedern. So wundert es nicht, dass die Gesetze krankenkassenfreundlich ausfallen.