Tina Rubi liess ihr erstes Kind vor der Geburt auf Behinderungen hin testen. «Wir wollten uns damit beruhigen», erzählt die heute 36-Jährige. Sie und ihr Mann erfuhren, dass die Wahrscheinlichkeit klein sei, dass ihr Baby Chromosomenstörungen wie Trisomie 13, 18 oder 21 haben werde. Über die Folgen, die ein schlechtes Testresultat mit sich gebracht hätte, machte sie sich damals jedoch kaum Gedanken.
So wie Rubi und ihrem Mann geht es den meisten Paaren, die ein Kind erwarten: Kaum wissen sie von der Schwangerschaft, konfrontiert sie der Frauenarzt mit Tests am Ungeborenen: Bluttest, Ultraschall oder Chorionbiopsie (siehe Tabelle Seite 18). Fachleute gehen davon aus, dass 70 Prozent der Schwangeren ihr Ungeborenes testen lassen. Alle diese Tests haben eines zum Ziel: Sie sollen zeigen, ob das Baby missgebildet oder behindert ist.
Der neuste unter ihnen, der 1500 Franken teure Praena-Test, ist erst seit vier Wochen auf dem Markt – und hat bei Fachleuten und Betroffenen schon hohe Wellen geworfen. Mit ihm kann ein Paar bereits ab der zwölften Schwangerschaftswoche feststellen lassen, ob das Kind das Down-Syndrom hat. Ein weiterer Vorteil gegenüber älteren Tests: Ein Blutstropfen der Schwangeren genügt, um die Behinderung festzustellen. Bis anhin musste der Arzt der Schwangeren Fruchtwasser entnehmen, und das ist rikant. Hersteller Life Codexx verspricht zudem eine Genauigkeit des Resultats von 95 Prozent.
Dennoch kritisieren Fachleute den neuen Praena-Test: Er sei noch nicht zuverlässig, weil die Studienbasis zu klein sei. Sabina Gallati, Humangenetik-Expertin des Berner Inselspitals, sagt deshalb: «Er kommt zu früh auf den Markt.» Franziska Wirz von der Beratungsstelle Appella befürchtet, dass der Druck auf die Frauen, ihre ungeborenen Babys testen zu lassen, noch mehr zunimmt – weil der Test so einfach durchzuführen sei. Wirz: «Die Frauen müssen aufpassen, dass sie nicht unter die Räder der Pharma und der Technik geraten.»
Kommt hinzu: Nicht nur der Praena-Test, sondern sämtliche angebotenen Tests sind nur bedingt aussagekräftig. So stellt der Präna-Test bloss Veränderungen an einem einzigen Chromosom fest. Auch die anderen Tests decken nur einen Bruchteil aller möglichen Behinderungen und Fehlbildungen ab, die der Fötus haben kann.
Nur wenige Geburtsgebrechen erkennbar
Sabina Gallati berät Paare, die ein Kind erwarten, und führt mit ihrem Team solche Tests durch. Sie sagt: «Die Resultate können einem Paar eine falsche Sicherheit vermitteln.» Denn: «Eine Garantie für ein gesundes Kind gibt es nicht.»
Statistiken zeigen: Durch Tests vor der Geburt können nur gerade ein halbes Prozent der Geburts- gebrechen erkannt werden. Franziska Wirz kritisiert: «Viele Ärzte informieren ihre Patientinnen unzureichend. Die Paare schlittern deshalb oft unvorbereitet in die vorgeburtlichen Tests hinein.»
Das bemängelt auch Brigitte Hölzle-Sommerhalder vom Verein Pränatal-Diagnostik: «Die Untersuchungen laufen häufig so nebenbei, ohne konkret auf die Konsequenzen einzugehen. Sie stürzen jedoch allzu oft Frauen in ein Loch.»
Life Codexx, Hersteller des Praena-Tests, betont gegenüber dem Gesundheitstipp, der Test solle «eingebettet sein in eine umfassende Beratung und Diagnostik». Die «Mehrzahl der Frauen» würde mit Tests am Ungeborenen entlastet. Ergäben die Untersuchungen am Kind nichts Auffälliges, fühle sich die Schwangere danach beruhigt.
Späte Abbrüche sind sehr belastend
Anders sieht es jedoch aus, wenn das Resultat auf eine Behinderung hindeutet. Dann muss sich die Frau entscheiden, ob sie das Kind will oder im vierten oder gar fünften Schwangerschaftsmonat noch abtreiben soll. Wie belastend ein solcher Abbruch sein kann, erzählte eine Betroffene bereits vor einiger Zeit dem Gesundheitstipp (5/04). Nach dem Entscheid leiteten Ärzte im fünften Monat die Geburt ein. Die Frau fühlte sich «sehr traurig, voller Verzweiflung und Schuldgefühle». Sie musste die Hilfe einer Psychologin in Anspruch nehmen. Für viele Frauen ist ein solcher Schwangerschaftsabbruch traumatisierend.
Die Solothurner Frauenärztin Helene Huldi erachtet es deshalb als wichtig, dass sich Paare über die möglichen Konsequenzen von Tests bewusst werden. «Ideal ist, wenn sie sich schon vor der Schwangerschaft Gedanken machen zu Fragen wie: ‹Kommt bei einem schlechten Testresultat eine Abtreibung in Frage?›, oder: ‹Fühlen wir uns dem Alltag mit einem behinderten Kind gewachsen?›» Huldi selbst informiert die Schwangeren zweimal ausführlich über die möglichen Tests. Die Frauen müssten sich dabei auch der ungenauen Testresultate bewusst sein: «Nicht immer kann man sich auf die Resultate verlassen. Sie können falsch sein, denn sie sind bloss Wahrscheinlichkeitsrechnungen.»
Beim sogenannten Erst-Trimester-Test etwa ermittelt ein Computerprogramm anhand verschiedener Angaben ein Risiko für gewisse Krankheiten. Ausschlaggebend dafür sind das Alter der Mutter, die Resultate eines Bluttests und die im Ultraschall gemessene Nackentransparenz. Die Eltern erfahren dann zum Beispiel: Das Risiko, ein behindertes Kind zu bekommen, stehe bei 1:200 und sei somit leicht erhöht. Helene Huldi: «Das ist für Eltern äusserst abstrakt.» Zudem interpretiere jeder ein Risiko anders.
Bei Barbara Camenzind (siehe Porträt rechts) betrug die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Sohn Trisomie 21 haben würde, 1:93. Dieses Ergebnis, wie auch die Zeit, die darauf folgte, belasteten Camenzind sehr. «Ich befand mich in einem emotionalen Chaos», erzählt sie. Sie entschied sich, das Kind auszutragen. Es hat das Down-Syndrom.
Viele Schwangere, die Helene Huldis Praxis aufsuchen, möchten auf jegliche Tests verzichten. Die Frauenärztin macht bei diesen Frauen dann zwei Ultraschalltests, nach 12 und 22 Wochen.
Auch Tina Rubi liess bei ihrem zweiten und dritten Kind Ultraschalluntersuchungen und keine weiteren Tests machen. «Nach der Geburt des ersten Kindes wurde ich mir der schwerwiegenden Folgen der Tests bewusster.» Sie sei zum Schluss gekommen, dass sie bei einem schlechten Resultat nicht fähig wäre, abzutreiben. Sie und ihr Mann merkten: Käme eines ihrer Kinder behindert auf die Welt, empfingen sie auch dieses mit offenen Armen. Sie wollte ihre Schwangerschaft deshalb nicht unnötig belasten. Mitte August hat sie ihr drittes Kind im Geburtshaus geboren. Ein Mädchen. Sie ist glücklich über das Geschenk dreier gesunder Kinder.
TIPPS: Tests am Ungeborenen: Das sollten Sie wissen
- Ihr Arzt ist verpflichtet, Sie vor dem ersten Ultraschalluntersuch genau aufzuklären und auf unabhängige Beratungsstellen hinzuweisen.
- Sie müssen keinerlei Tests machen: Es besteht ein Recht auf Nichtwissen.
- Überlegen Sie, welche Konsequenzen Sie ziehen, wenn ein schlechtes Testresultat vorliegt.
- Schwangerschaftskontrollen können auch Hebammen durchführen. Sie sind dafür ausgebildet. Die Krankenkassen kommen dafür auf. Näheres auf: www.hebamme.ch
Mehr Informationen
- www.praenatal-diagnostik.ch: Kritische Informationen zu Tests während der Schwangerschaft.
- www.dialog-ethik.ch. Hier findet man eine «Checkliste» zum Klären wichtiger Fragen.
- «Schwangerschaftsvorsorge: Wie gehen wir damit um?», Broschüre, kostenlos zu beziehen bei: Appella, Telefon- und Online-Beratung, Postfach 19, 8026 Zürich. www.appella.ch, Tel. 044 273 06 60.
- www.insieme21.ch: Informationen zu Trisomie 21.
Drei Frauen und ihre Erfahrungen
«Laurin gehört zu unserer Familie»
Barbara Camenzind, 45, aus Zug, mit Laurin, 8 Jahre
«Wir wollten unser Kind testen lassen, einfach um sicher zu gehen. Als wir dann mit dem Resultat konfrontiert wurden, traf es uns unvorbereitet. Der Test zeigte: Unser Kind würde das Down-Syndrom haben. Die Fruchtwasserpunktion bestätigte diese Diagnose.
Wir wussten nicht, was tun. Die Ärztin gab mir Infomaterial über das Leben mit einem behinderten Kind und über einen Spätabbruch. Ich hätte das Kind vorzeitig gebären müssen, um die Schwangerschaft abzubrechen – ich fragte mich, ob ich damit leben könnte. Die Zeit der Entscheidung war extrem belastend. In der 17. Woche entschieden wir uns für das Kind – eine riesige Erleichterung. Als Laurin zur Welt kam, freuten wir uns über ihn. Heute kann ich ihm sagen, dass wir ihn so wollten, wie er ist. Wir sind glücklich, dass er zu unserer Familie gehört.»
«Wir machten bewusst keine Tests»
Christine Gysi, 35, aus Winterthur, mit Valérie, 11 Monate
«Wir entschieden uns bewusst gegen jegliche Tests während der Schwangerschaft, die mehr über die Gesundheit des Babys aussagen sollen. Wir hatten uns zuvor nicht intensiv mit den Tests auseinandergesetzt, doch wir merkten: Eine Abtreibung kommt für uns sowieso nicht in Frage. Wir freuten uns auf das, was kommen würde, und hatten ein gutes Gefühl.
Der Arzt bestand aber darauf, während des Ultraschalls wenigstens die Nackenfalte zu messen. Wir sagten ihm, das sei in Ordnung, solange er uns das Resultat nicht sagen würde. Er reagierte irritiert. Wir erlebten die Diskussionen mit anderen rund um diese Tests als Panikmache. Ich kann mir vorstellen, dass einige Frauen in ihrer ersten Schwangerschaft davon überrollt werden.
Wir freuen uns über unser gesundes Kind. Mit Valérie erleben wir unser grosses Glück.»
«Ich hätte vermutlich abgetrieben»
Claudia Kenan, 41, aus Basel, erwartet ihr erstes Kind
«Ich erschrak, als mir die Ärztin sagte, wie hoch das Risiko mit meinen 41 Jahren ist, ein behindertes Kind zu bekommen. Ich entschied mich deshalb zu einer Chorionbiopsie: Der Arzt sticht dabei mit einer Nadel durch die Bauchdecke und entnimmt dem Mutterkuchen Zellmaterial des Babys. Das Testresultat wies auf keine Abweichungen hin.
Der Test hat mich nicht verunsichert, ich ging davon aus, dass alles in Ordnung sein würde. Hätte der Test gezeigt, dass das Kind stark behindert sein würde, hätte ich vermutlich abgetrieben. Die Aufregung um den neuen Test ver- stehe ich nicht, denn viel verändert sich nicht: Bereits jetzt lassen viele Schwangere einen Test machen. Nun wird bloss das Verfahren weniger schmerzhaft und für das Kind sicher. Ich glaube nicht, dass sich deshalb mehr Frauen für einen Chromosomen-Test entscheiden.»