Der Bundesrat will in der Psychiatrie einheitliche Tarife einführen. Ziel des neuen Tarifsystems namens Tarpsy ist, dass die Leistungen und die Kosten der Kliniken einheitlich und vergleichbar werden. Das soll auch den Wettbewerb unter den psychiatrischen Kliniken fördern. Ein ähnliches System mit «Fallpauschalen» gilt für die Spitäler seit vier Jahren. Nun hat die Berner Firma Swiss-DRG das neu entwickelte Tarpsy-Modell fertiggestellt. Es liegt dem Gesundheitstipp vor. Es soll ab 2018 für alle Kliniken gelten, sofern der Bundesrat nächstes Jahr grünes Licht gibt.
Täglich sinkende Tarife, weniger Geld für Kliniken
Doch das neue Tarifsystem stösst auf geballte Kritik von Patientenvertretern und Psychiatern. Was sie vor allem stört: Je länger ein Patient krank ist, desto weniger Geld erhalten die Kliniken. Andreas Daurù von der Stiftung Pro Mente Sana kritisiert: «Damit steigt der Druck, Patienten möglichst schnell zu entlassen.» Wenn das Umfeld nach der Entlassung nicht tragfähig genug sei, drohe die Gefahr einer «Drehtürpsychiatrie», so Daurù. Der Wiedereintritt in die Psychiatrie sei dann programmiert.
Auch für René Bridler, ärztlicher Direktor des Sanatoriums in Kilchberg ZH, fördern die neuen Tarife die Tendenz zu Kurzbehandlungen. Denn ab einem bestimmten Zeitpunkt seien wegen der täglich sinkenden Tarife manche Patienten ein «Verlustgeschäft» für die Kliniken. Psychiater Bridler warnt: Manche Wohn- und Pflegeheime seien mit der Aufnahme instabiler Psychiatriepatienten überfordert. Wenn die Kliniken sie wegen des neuen Systems zu früh entlassen, könnten mehr psychisch schwerkranke Patienten obdachlos werden: «Schon heute sind in der Stadt Zürich viele solcher Patienten obdachlos», sagt Bridler.
Tarpsy teilt zudem die Patienten in eine von zehn Diagnosegruppen ein. Es gibt zum Beispiel eine Gruppe für Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen. Eine andere Gruppe umfasst alle Patienten mit neurotischen Problemen, Belastungsstörungen und körperlichen Beschwerden mit seelischen Ursachen.
Einteilung in Gruppen «eher willkürlich»
Die Kliniken bekommen mehr oder weniger Geld – je nachdem, in welche Gruppe die Ärzte einen Patienten einteilen. René Bridler kritisiert: «Die Einteilung in diagnostische Sammeltöpfe ist eher willkürlich.» Die Krankheitsbilder der Patienten seien zu unterschiedlich, als dass man sie in zehn Gruppen einteilen könnte. Und Ärzte könnten nicht immer auf Anhieb erkennen, woran ein Patient leidet: «Wenn jemand Stimmen hört, kann das eine Schizophrenie, eine schwere Depression oder eine körperliche Störung sein.»
Die Aufenthaltsdauer in der Klinik habe wenig mit einer bestimmten Diagnose zu tun, sagt Bridler. Sie werde stärker von sozialen Faktoren beeinflusst, zum Beispiel von familiären Beziehungen und Wohnverhältnissen: «Das haben Studien auf der ganzen Welt gezeigt.» Beispiel Depression: Die Heilung verläuft sehr unterschiedlich, wie die Fälle der drei Patientinnen zeigen (siehe Unten). Renata Bleichenbacher war vier Monate in der Klinik St. Pirminsberg in Pfäfers SG. Kurz vor dem Austrittstermin erlitt sie einen erneuten Zusammenbruch. Ein Arzt setzte sich dafür ein, dass die Krankenkasse die Behandlung weitere vier Wochen bezahlte. Nicole Hirschi war wegen ihres Burnouts gar dreimal in einer Klinik. Keines der verschiedenen Medikamente wirkte. Erst ein Experiment mit einem offiziell nicht gegen Depressionen zugelassenen Mittel half.
Zur Kritik der Fachleute sagt Eva Spring, Projektleiterin bei Swiss-DRG, die Einteilung in Patientengruppen sei nicht willkürlich erfolgt. Sie beruhe auf Daten, die die Kliniken geliefert hätten. Und die Tarife müssten im Verlauf der Behandlung sinken, weil die Tageskosten abnähmen, sobald ein Patient stabilisiert und der Behandlungsverlauf absehbar sei. Tarpsy sei besser als das heutige System. Heute würden Kliniken für schwerkranke Patienten den gleichen Betrag erhalten wie für leichtere Fälle. Das führe zum Anreiz, gesunde und billige Patienten lange zu behalten und schwere, teure Fälle nicht aufzunehmen oder früh zu entlassen.
René Bridler bestreitet diese Darstellung, sie sei «frei erfunden und verleumderisch». Die Kliniken seien gesetzlich verpflichtet, alle Patienten aufzunehmen. Zudem würden Ärzte Schwerkranke oft auch gegen deren Willen in eine Klinik einweisen. Bridler räumt zwar ein, der Aufwand sei bei manchen Patienten am Anfang grösser: «Allerdings ist es bei vielen Patienten nicht so – etwa, wenn die Behandlung ungenügend wirkt.»
Klinikaufenthalt: Gleiche Krankheit, unterschiedliche Heilungsdauer
Regula Vetsch (45), Name geändert
Mittelschwere Depression – acht Wochen in der Klinik
«Vor vier Jahren war ich zwei Monate lang im Zürcher Sanatorium Kilchberg. Und dieses Jahr nochmals fünf Tage. Die Ärzte stellten bei mir eine mittelgradige Depression fest. Ich war extrem erschöpft. Soziale Kontakte waren sehr anstrengend. Ich litt unter starken Ängsten, Schlafstörungen und wollte mir das Leben nehmen. Ausgelöst wurde die Krankheit durch eine neue Ausbildung, die meine Kräfte überforderte. Ich versuchte, mich durchzubeissen, bis es zu spät war. Die Klinikaufenthalte haben mir sehr geholfen. In einer Verhaltenstherapie konnte ich aufarbeiten, was in meinem Leben schiefgelaufen ist. Jetzt bin ich wieder fit.»
Renata Bleichenbacher (50)
Schwere Depression – vier Monate in der Klinik
«Nach einem Autounfall litt ich an einer schweren Depression. Ich hatte Suizidgedanken. Im Oktober 2006
kam ich in die Klinik St. Pirminsberg in Pfäfers und blieb vier Monate dort.
Der Aufenthalt tat mir gut. Ich bekam eine Psychotherapie. Dabei lernte ich
auch, auf meine Frühwarnzeichen zu achten. Kurz vor dem geplanten Austrittstermin hatte ich einen erneuten Zusammenbruch. Zum Glück konnte ich einen Monat länger in der Klinik bleiben. Es wäre fatal gewesen, wenn ich nach drei Monaten hätte heimgehen müssen. Ich bin überzeugt, dass ich dann nicht gesund geworden wäre.»
Nicole Hirschi (42)
Schwere Depression – gut sieben Monate in der Klinik
«Jahrelang lebte ich über meine Kräfte. Ich war Primarlehrerin und erzog drei Kinder. Vor drei Jahren wurde mir alles zu viel. Ich bekam eine schwere Erschöpfungsdepression. 2013 war ich vier Monate in der Burnoutstation der Reha-Klinik Hasliberg, 2014 drei Monate und dann nochmal zwei Wochen als Krisenintervention. Die Ärzte probierten bei mir über ein Dutzend Medikamente aus, doch keines nützte. Ich verlor die Hoffnung. Dann bekam ich Infusionen mit dem Narkosemittel Ketamin. Das half mir, die Depression zu bewältigen. Jetzt bin ich so stabil, dass ich wieder ohne Medikamente leben kann.»