Situationen, in denen ich schreiben muss, versuche ich zu meiden. Besonders schwierig ist es, wenn jemand auf mein Blatt schaut – ich werde total unsicher. Um meine Schreibschwäche zu verstecken, sudle ich in solchen Fällen, so kann man meine Fehler nicht erkennen. Einer davon: Ich verwechsle stets die Buchstabenfolge «ts» und «st».
Am Computer ist es besser, weil es ein Korrekturprogramm gibt. Dadurch kann ich fehlerlose E-Mails schreiben. Allerdings ist auch das sehr mühsam. Viele Wörter sind jeweils rot unterstrichen und ich muss mit Hilfe meines Internetsuchprogramms jeden einzelnen Buchstaben vergleichen. Nur so sehe ich, wo der Fehler liegt. Deshalb schreibe ich nur ganz selten Briefe.
Auch beim Lesen bin ich sehr langsam. Deshalb lese ich bloss, was mich speziell interessiert. Wenn ein fremdsprachiger Film Untertitel hat, verliere ich den Faden. Bei Vorträgen auf Folien kann ich dem Text nicht folgen. Es ist mir unangenehm, wenn ich nachfragen muss. Deshalb oute ich mich lieber gleich als Betroffener des Illettrismus.
Bevor ich in die Schule kam, lebte ich unbesorgt. Seither habe ich diesen ewigen Kampf mit den Buchstaben. Noch in der 6. Klasse konnte ich meinen Namen nicht richtig schreiben, obwohl ich viel übte. Diktate waren eine Qual. In kurzen Texten machte ich schon rund 20 Fehler. Deshalb entwickelte ich gewisse Strategien, um meine Schwäche zu überspielen – etwa mit Sprüchen und Witzen. Anerkennung holte ich mir im Sport.
Schwierig für mich sind Sprachkurse: Ich ging zwei Jahre ins Italienisch. Trotzdem kann ich kein Wort sprechen. Seit kurzem besuche ich einen Englischkurs. Ich bete jeweils, dass mich der Lehrer nicht abfragt – ich habe Angst, mich zu blamieren. Die Strapaze nehme ich nur auf mich, weil ich als Fitnesstrainer viel mit Kunden zu tun habe, die Englisch sprechen. Vor Prüfungen habe ich immer noch panische Angst. Meine Erfahrungen habe ich in meinem Buch «Dudl» festgehalten.
Meine Eltern sorgten sich lange, was einmal aus mir werden sollte. Meine Wünsche waren Arzt, Lehrer oder Polizist. Doch die musste ich mir aus dem Kopf schlagen. Die Lehre als Koch brach ich ab und begann eine Lehre in einem Sportgeschäft. Ich war sehr interessiert und bald ein guter Verkäufer. Meine Ausbildner und Prüfungsexperten berücksichtigten mein Handicap. Der gute Abschluss stärkte mein Selbstwertgefühl enorm.
Trotz allem habe ich es zu etwas gebracht: Als Fünfkämpfer holte ich die Goldmedaille an der Schweizer Meisterschaft der Junioren. Dann konnte ich das Hobby zum Beruf machen. Heute leite ich mit zwei Brüdern über 20 Fitnesscenter. Wir ergänzen uns super: Meine Brüder machen die Administration. Ich teste lieber ein neues Gerät, als dass ich ein Formular ausfülle.
Illettrismus: Schreiben und Lesen wird zum Dauerstress
Das Phänomen Illettrismus betrifft rund 800000 Personen in der Schweiz: Sie können trotz Schulbildung weder richtig lesen noch schreiben. Dies sagt der Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben.
Für Illettrismus gibt es keine medizinische Erklärung. Betroffene stossen an eine Barriere, die das normale Lernen verunmöglicht. Sie können den Anforderungen in der Schule nicht folgen, waren lange Zeit krank oder leben in schwierigen sozialen Verhältnissen.
Wegen Stigmatisierung und Scham suchen Betroffene oft sehr spät Hilfe.
Kurse und Informationen
Schreib- und Lesekurse für Erwachsene: Verein Lesen und Schreiben, Effingerstrasse 2, 3011 Bern; www.lesen-schreiben-d.ch. Auskunft: Tel. 0840 47 47 47 (Lokaltarif) oder vermittler@lesen-schreiben-schweiz.ch