Freudlose Ehe: Flüchten oder aussitzen?
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Gesundheitstipp 10/2000
01.10.2000
Adelheid und Ernst sind seit 32 Jahren verheiratet. Ernst, ein fleissiger Werkmeister, sorgte pflichtbewusst für seine Familie. Adelheid hielt den Haushalt in Ordnung. Liebe hat sie in dieser Ehe nie gespürt. Doch inzwischen haben sich beide Partner an den freudlosen Zustand gewöhnt.
Eines Tages trifft Adelheid beim Einkaufen einen alten Schulfreund. Sie treffen sich regelmässig. Schnell entsteht eine Liebesbeziehung. Bei Adelheid brechen all die ungelebten, seit Jahren unter ...
Adelheid und Ernst sind seit 32 Jahren verheiratet. Ernst, ein fleissiger Werkmeister, sorgte pflichtbewusst für seine Familie. Adelheid hielt den Haushalt in Ordnung. Liebe hat sie in dieser Ehe nie gespürt. Doch inzwischen haben sich beide Partner an den freudlosen Zustand gewöhnt.
Eines Tages trifft Adelheid beim Einkaufen einen alten Schulfreund. Sie treffen sich regelmässig. Schnell entsteht eine Liebesbeziehung. Bei Adelheid brechen all die ungelebten, seit Jahren unter Verschluss gehaltenen Gefühle auf. Sie will die Scheidung einreichen. Für Ernst bricht eine Welt zusammen.
Für die meisten Menschen bedeutet eine Trennung einen fundamentalen Einschnitt. In einer Liebesbeziehung werden unsere tiefsten seelischen Schichten angesprochen. Neben Erotik und Sexualität spielen noch andere Kräfte eine grosse Rolle: Wir erleben den Partner oder die Partnerin als Heimat. Bei einer Trennung droht uns nicht nur der Verlust des Partners oder der Partnerin, sondern wir haben Angst, heimatlos zu werden. Deshalb bleiben viele auch dann in einer Partnerschaft, wenn sie alles andere als glücklich sind.
Den Abschied von der Ehe nicht überstürzen
Vor einer Scheidung sollte man zunächst einmal prüfen, ob man tatsächlich alles unternommen hat, um der Gemeinschaft eine echte Chance zu geben. Oft hilft eine Ehetherapie. Die zweite Frage, die man sich stellen sollte: Stärkt oder schwächt mich ein weiteres Zusammenleben? Wenn wir feststellen, dass wir trotz der schwierigen Verhältnisse gelernt haben, uns Freudenischen zu bewahren, die uns kräftigen, dann lohnt es sich eventuell, zu bleiben - vielleicht auch nur vorläufig. Die dritte Frage: Treffen traditionelle Ehehindernisse in meiner Wirklichkeit tatsächlich zu? Stimmt es, dass ich mich allein wirtschaftlich nicht über Wasser halten kann? Über diese Frage ist nicht mit Freundinnen zu spekulieren. Sie lässt sich am besten mit Hilfe eines Anwaltes oder einer Anwältin beantworten.
Noch immer geistert das Gespenst in den Köpfen, dass Kinder von Alleinerziehenden, wie ja auch grundsätzlich von arbeitenden Müttern, Schulschwierigkeiten bekommen, drogengefährdet sind oder kriminell werden. Das Zusammentragen biographischer Daten von Menschen, die wir kennen, korrigiert dieses Vorurteil schnell.
Viele werden auch den religiösen Ohrwurm nicht los: «Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht trennen», lautet die gängige Kirchenformel. In unserer Kultur jedoch findet die Partnerwahl ausschliesslich nach persönlichen Vorlieben statt. Ob unsere Wahl einer göttlichen Instanz gefällt oder nicht, interessiert uns am Beginn einer Partnerschaft nicht. Sich hinterher auf ein göttliches Auswahlverfahren berufen zu wollen, das nicht aufgelöst werden könne, ist ziemlich eigenartig.
Die Entscheidung reifen lassen
Sich von einem Menschen zu verabschieden, der einem sehr nah gestanden hat, ist ein Prozess, der lange dauert. Eine Entscheidung reift langsam wie eine Frucht. Wenn es aber an der Zeit ist, lässt sie sich leicht vom Baum lösen. So auch bei Adelheid. Sie entschliesst sich, endgültig zu gehen. «Ich bin zwar schon 56», sagt sie. «Aber ich bin nicht mehr bereit, auf mein Leben zu verzichten.»
Buchtipp:
- Canacakis/Bassfeld: «Auf der Suche nach den Regenbogentränen - heilsamer Umgang mit Abschied und Trennung», Bertelsmann, Fr. 37.-
Vortragskassetten:
- Mathias Jung: «Das Drama der Trennung», Emu, Fr. 22.-
- Mathias Jung: «Verlassen und verlassen werden», Emu, Fr. 22.-
Bezugsquelle für Hörkassetten: Media Didacta Verlag, Postfach 1314, 8580 Amriswil Tel. 071 411 07 49, Fax 071 411 04 05, media-didacta@bluewin.ch
Julia Onken
Die Psychologin und Autorin behandelt auf dieser Seite Fragen und Probleme aus Partnerschaft und Ehe. Die Gründerin und Leiterin des Frauenseminars Bodensee und des Vereins «Bildungsfonds für Frauen» hat sich auch als Dozentin in der Erwachsenenbildung einen Namen gemacht. (www.julia-onken.ch)