Geschäftstüchtigkeit kommt vor der Beratung
Beraten Schweizer Apotheken ihre Kunden gut? saldo wollte es wissen und schickte zwei normalgewichtige Testerinnen los, um nach Schlankheitsmitteln zu fragen.
Inhalt
saldo 13/2005
31.08.2005
Sigrid Cariola
Was essen Sie während des Tages?», «Machen Sie gerade eine Diät?», «Sie sind doch schlank, möchten Sie noch mehr abnehmen?» Auf solche und ähnliche Fragen bereiteten sich die beiden saldo-Testkäuferinnen vor. Ihr Auftrag: Sie sollten in 15 Deutschschweizer Apotheken nach einem Mittel fragen, welches das Hungergefühl dämpft. So wollten sie herausfinden, wie ernst es die Apotheken mit der Beratung nehmen - auch bei nicht rezeptpflichtigen Medikamenten.
Beide Testkäuferi...
Was essen Sie während des Tages?», «Machen Sie gerade eine Diät?», «Sie sind doch schlank, möchten Sie noch mehr abnehmen?» Auf solche und ähnliche Fragen bereiteten sich die beiden saldo-Testkäuferinnen vor. Ihr Auftrag: Sie sollten in 15 Deutschschweizer Apotheken nach einem Mittel fragen, welches das Hungergefühl dämpft. So wollten sie herausfinden, wie ernst es die Apotheken mit der Beratung nehmen - auch bei nicht rezeptpflichtigen Medikamenten.
Beide Testkäuferinnen sind von schlanker Statur. Die eine ist 40 Jahre alt, die andere 16. Vor allem die Jüngere rechnete damit, dass man ihr kein Schlankheitsmittel verkaufen würde: «Mit meiner Zahnspange seh ich doch viel zu jung aus, die lachen mich ja aus.»
Auch die Ältere sah sich im Geiste bereits kritischen Blicken und Fragen ausgesetzt. Aber die Tour durch Schweizer Apotheken verlief anders als erwartet (siehe Tabelle).
Verschiedene rezeptfreie Produkte im Angebot
Erste Station: Zürich. In der Pfauen-Apotheke sind keine weiteren Kunden. Die ältere Testerin fragt: «Haben Sie ein Mittel, das das Hungergefühl dämpft?» Daraufhin klaubt die Verkäuferin drei verschiedene Päckchen aus dem Regal. Nach einem Blick auf die Packungsrückseite erklärt sie kurz die Wirkungsweise der Mittel. Die Kundin entscheidet sich für das günstigste Präparat. Binnen zwei Minuten ist sie wieder aus dem Laden. So einfach geht das.
Nach dem Besuch einiger weiterer Apotheken haben die beiden Testkundinnen unfreiwillig einen Überblick über die verschiedenen rezeptfreien Schlankheitsmittel. Da sind zunächst Tabletten, die aus Pflanzenfasern bestehen und im Magen aufquellen. Über Dehnungsrezeptoren in der Magenwand wird dem Gehirn signalisiert, dass der Magen gefüllt sei. Wer Dofibra, Paya oder Top Balance einnimmt, sollte dazu viel trinken. Diese Arzneien kosten zwischen 30 und 40 Franken.
Eine zweite Kategorie bilden Tropfen und Tabletten, die auf das zentrale Nervensystem einwirken, zum Beispiel Extrakte aus dem Hoodia-Kaktus, Sveltosyl Gouttes oder Spagyrik-Tropfen.
Daneben stellten Apotheker ein Präparat namens Formoline L 112 vor, das angeblich Nahrungsfette bindet. Es sorgt dafür, dass der Körper sie wieder unverdaut ausscheidet. Dieses Mittel mag zwar zur Gewichtsre-duktion beitragen, auf das Hunger-gefühl hat es jedoch keinen Einfluss.
Beim Besuch der jungen Kundin in der Zürcher Pfauen-Apotheke zeigen die Verkäuferinnen lediglich zwei Quellmittel. Erst als sich die 16-Jährige für ein Produkt entschieden hat, bekommt sie einen Gratistipp: Auch viel trinken fülle den Magen. Das Gleiche wiederholt sich in einigen weiteren Apotheken: Sobald die Kundin das Portemonnaie gezückt hat, folgt der Hinweis auf günstige Alternativen wie eine Tasse Bouillon oder einen Apfel.
Kaum ein Apotheker stellt den beiden Kundinnen Fragen
Einer der wenigen Apotheker, der nicht so geschäftstüchtig agiert wie seine Berufskollegen, ist Jürg Thaler in St. Gallen. Auf seiner Verkaufstheke stehen bereits einige Fläschchen mit Hoodia-Tropfen. Trotzdem unternimmt er keinen Versuch, das Mittel zu verkaufen. Stattdessen erkundigt er sich, wann das Hungergefühl auftaucht und rät zudem, Früchte zu essen. Im Übrigen sei es normal, zwischendurch ein bisschen Appetit zu verspüren. Anders eine Angestellte, die einige Tage später die junge Testkundin bedient: Sie empfiehlt P16 Schlankheitstropfen, ein Mittel, das sich laut Packungsaufdruck nicht für Kinder und Jugendliche eignet.
Station Aarau. Die Tasche der ersten Testerin ist bereits prall gefüllt mit Pillen und Fläschchen, da erlebt sie ein persönliches Highlight. In der Bahnhof-Apotheke wird ihr zum ersten Mal etwas Essbares präsentiert: ein Diät-Riegel, winzig zwar, aber gross genug, um einmal herzhaft zubeissen zu können. Kostenpunkt: zirka 2 Franken.
Die Testerinnen fahren nach Chur, Bern, Aarau, St. Gallen und bekommen Routine. Die Apothekenbesuche laufen meist nach demselben Schema ab: Die Kundin fragt, die Apothekenverkäuferin zeigt Produkte, erläutert kurz die Wirkung und wartet auf den Kaufentscheid. In der Regel stellt sie keine Fragen zum Hungergefühl der Kundin, zu Diäten, ihrem Ernährungs- oder Bewegungsverhalten.
«Auf eine Art war das angenehm», sagt die 16-jährige Testkundin, «so war ich nicht gezwungen, der Verkäuferin etwas vorzumachen.» Andererseits habe ich mich die ganze Zeit gefragt: «Ist es normal, dass schlanke Frauen solche Mittel verlangen? Warum gibt es keine Reaktion, wenn eine Sechzehnjährige sie verlangt? Wie dünn muss jemand sein, dass irgendeiner etwas sagt?»
Basel: Ernährungsberatung statt Schlankheitsmittel
In Basel gibt es eine Überraschung: In der Engel-Apotheke präsentiert die Verkäuferin der jüngeren Kundin zwar Formoline L 112, erklärt aber, dies sei nicht, wonach sie suche. Es folgt eine ausführliche Ernährungsberatung. In der St.-Jakobs-Apotheke wagt sich die Frau hinter der Theke noch weiter vor. Sie mustert ihr jugendliches Vis-à-vis und fragt: «Wo wollen Sie denn noch abnehmen?» Sie präsentiert kein einziges Produkt, sondern empfiehlt, viel Wasser zu trinken.
Fazit: Bei 30 Apothekenbesuchen kam es zu vier persönlichen Beratungsgesprächen. Einige wenige Male fiel zudem das Stichwort «ausgewogene» oder «fettreduzierte Ernährung». Letztlich waren 26 Besuche vor allem Verkaufsbegegnungen, die jeweils in weniger als 2 Minuten abgewickelt waren.
Rückfragen: «Manche Kunden fühlen sich ausgehorcht»
Einige Apotheker räumen im Nachhinein ein, dass die Begegnungen mit den saldo-Testkäuferinnen nicht optimal verlaufen seien. In der Regel sollten die Verkäufer ihrer Meinung nach Fragen zum Bewegungs- und Essverhalten des Gegenübers stellen. Anita Frey von der Aarauer Bahnhof-Apotheke schränkt diese Selbstverpflichtung jedoch ein: «Manche Kunden fühlen sich dann allerdings ausgehorcht und bevormundet.»
Darüber hinaus machen viele Apotheker geltend, dass beide Testpersonen schlank und nicht dünn gewesen seien. «Es ist nicht ungewöhnlich, dass normal gewichtige Frauen im Sommer mit einer natürlichen Methode 1 bis 2 Kilogramm abnehmen wollen», sagt Bettina Ariza-Hügin von der Bellevue-Apotheke in Zürich. Ausserdem betonen einige Apotheker, wie etwa Christian Göldlin von der gleichnamigen Apotheke in Aarau, kein Mittel abgegeben zu haben, welches gesundheitliche Risiken oder ein Abhängigkeitspotenzial berge.
Auch in der Schweiz immer weniger Normalgewichtige
Für Kurt Laederach, Leiter der Sprechstunde Essstörungen und Übergewicht am Inselspital Bern, treffen all diese Erklärungsversuche nicht ins Schwarze: «Dem Apotheker geht es nicht unbedingt darum, herauszufinden, warum jemand Schlankheitsmittel verlangt, er will sie in erster Linie verkaufen.» Auch Christian Ryser, Projekleiter der Ernährungsbewegung Suisse Balance, ist vom Ergebnis der saldo-Stichprobe nicht überrascht: «Die Apotheken haben ein Interesse daran, möglichst viel zu verkaufen - das deckt sich nicht unbedingt mit dem Interesse der Gesellschaft an einer möglichst hohen Zahl von Menschen, die ein normales Körpergewicht und ein gesundes Körpergefühl haben.»
Normalgewichtige gibt es in der Schweiz statistisch gesehen immer weniger: Mehr als jeder dritte Schweizer hat inzwischen Übergewicht. 4500 junge Frauen zwischen 15 und 25 Jahren leiden an Magersucht, bis zu 13 500 sind an Ess-Brech-Sucht erkrankt. Experten rechnen mit einer hohen Dunkelziffer. Gerade Jugendliche haben es nach der Einschätzung Kurt Laederachs «nicht leicht, ein gesundes Körpergefühl zu entwickeln, wenn von der Werbung und aus ihrer Umwelt die Signale kommen, noch dünner ist noch besser».
Essstörungen lassen sich nicht sofort erkennen
Für die Apotheker der saldo-Stichprobe war das Alter der 16-jährigen Testkäuferin auch im Nachhinein kein grosses Thema. Einige versichern, dass sie oder ihre Angestellten sich anders verhalten hätten, wenn die Testerinnen sichtlich mager gewesen wären, also einen Body Mass Index unter 18 gehabt hätten. «Wenn jemand ein Suchtproblem hat, fällt dies auch auf», sagt Anita Frey von der Aarauer Bahnhof-Apotheke. Eine Einschätzung, die Kurt Laederach als Wunschdenken bezeichnet. «Dass jemand unter Essstörungen leidet, merken oft weder der behandelnde Arzt noch die Familie. In einer kurzen Begegnung lässt sich eine solche Diagnose ohne Fachkenntnis nicht stellen».
Sind Sie zu leicht oder zu schwer?
Der Body Mass Index BMI berechnet sich folgendermassen:
Körpergewicht in kg
(Körpergrösse in m)2
Offiziell gilt ein BMI von 20-25 als normal (bei Jugendlichen 18-25), 25-30 gilt als übergewichtig, 30-40 als fettleibig und ein Wert unter 18 als untergewichtig.
Information zum Thema «Essverhalten» finden sich unter www.pepinfo.ch, einem Projekt zur Prävention, Früherkennung und Beratung von Essstörungen.
Diese Mittel gibts nur auf Rezept
Die Appetitzügler der 80er Jahre, Phentermin und Fenfluramin, sind inzwischen verboten. Diese Amphetamine der «älteren Generation» machten abhängig und führten zu Herzversagen. Ärzte verschreiben jedoch nach wie vor amphetaminähn-liche Substanzen sowie das Schilddrüsenhormon L-Thyroxin. Beide Wirkstoffe setzen an zentralem Nervensystem und Stoffwechsel an. Ähnlich wirkt Reductil. Es vermindert den Appetit und erhöht den Energieverbrauch. Folge: Der Patient nimmt ab. Reductil kostet bis zu 180 Franken im Monat, wobei die Krankenkassen das Mittel nicht bezahlen. Einige Ärzte verschreiben es nicht nur stark übergewichtigen Patienten, sondern auch jenen, die schnell zwei, drei Kilogramm abspecken wollen.
Xenical funktioniert anders. Es wirkt auf die Fettresorption, weswegen der Körper einen Teil der Fette in der Nahrung unverdaut ausscheidet. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten von Xenical bei ärztlicher Verschreibung nur unter bestimmten Bedingungen.