Markus Bless, 36: Leben nach klinischem Tod «Ich erinnere mich an vieles»
Inhalt
Gesundheitstipp 1/2000
01.01.2000
Dass ich noch lebe, ist für alle um mich herum kaum zu glauben. Ein schwerer Unfall hat mein Leben vor sechs Jahren total umgekrempelt: Geschmacks- und Geruchssinn sind zerstört; die Augen ermüden schnell; auf einem Ohr höre ich nichts, das andere wird immer schlechter. Dafür höre ich im Kopf acht verschiedene Töne. Ich hatte Probleme einzuschlafen, aus Angst, wieder ins Koma zurückzufallen. Aber ich lebe noch, kann sprechen, Sport treiben und Auto fahren.
Wegen der schlim...
Dass ich noch lebe, ist für alle um mich herum kaum zu glauben. Ein schwerer Unfall hat mein Leben vor sechs Jahren total umgekrempelt: Geschmacks- und Geruchssinn sind zerstört; die Augen ermüden schnell; auf einem Ohr höre ich nichts, das andere wird immer schlechter. Dafür höre ich im Kopf acht verschiedene Töne. Ich hatte Probleme einzuschlafen, aus Angst, wieder ins Koma zurückzufallen. Aber ich lebe noch, kann sprechen, Sport treiben und Auto fahren.
Wegen der schlimmen Kopfverletzung lag ich zwei Monate im Koma. Nach drei Hirnoperationen gaben die Ärzte die Hoffnung fast auf. 22 Stunden war ich klinisch tot. Meine Frau wollte es einfach nicht glauben. Sie setzte sich an mein Bett in der Intensivstation und flehte mich an, sie nicht zu verlassen und ihr irgendein Zeichen zu geben.
An diese Zeit habe ich viele präzise Erinnerungen, die mein jetziges Leben stark prägen. Ich habe vieles gesehen, gehört, gespürt und mich nach dem Aufwachen genau daran erinnert.
So begrüsste ich die Ärzte mit den richtigen Namen, obwohl ich sie nie zuvor bewusst gesehen hatte. Mich selber jedoch habe ich im Spiegel nicht erkannt, nicht nur der Verletzungen und Verbände wegen.
Für mich war es wichtig, den Betreuenden mitzuteilen, was ich beobachtet hatte. Ich wollte ihnen auch klarmachen, dass ich Dinge wahrgenommen hatte, die nicht für meine Ohren und Augen bestimmt waren. Wer Koma-Patienten betreut, muss meiner Ansicht nach damit rechnen, gesehen und gehört zu werden. Darum beschwerte ich mich bei einer Krankenschwester, die über mein nasses Bett geschimpft hatte, als ich im Koma war.
Viele Informationen habe ich verdreht und vermischt. Ich wusste plötzlich Dinge, die ich nie gelernt oder aktiv gehört hatte. So soll ich nach dem Aufwachen detailliert von Erlebnissen als Pilot erzählt haben. Alles sei korrekt gewesen. Dabei bin ich als begeisterter Fallschirmspringer gar nie selbst geflogen.
Ich erinnere mich an schöne und ganz schreckliche Bilder. Ich sah mich hilflos im Bett liegen. Ich nahm wahr, dass sich viele Leute geschäftig um mich kümmerten oder nervös um mein Bett herum- standen. Ich konnte miterleben und beobachten, was mit mir geschah, aber nichts bewegen. Im Koma habe ich gelebt, in einer ganz andern Wirklichkeit zwar, aber trotzdem kann ich mich an meine Gefühle erinnern.
Manchmal erkennt jemand eine Situation aus meinen Erzählungen. Zum Beispiel habe ich eine Hochzeit hautnah miterlebt. Meine Mutter hat sie dann als die meines Grossvaters vor fast 60 Jahren identifiziert.
Die schlimmste Koma-Erfahrung war, als ich das Gefühl hatte, auf einem Berg zu stehen. Ich meinte, nicht mehr richtig zu leben. Etwas war ganz komisch. Es wurde stockdunkel. Dann hörte ich Töne, die gleichen, die ich auch jetzt noch im Kopf habe. Auf der andern Seite, jenseits des Berges, sah ich unter mir ein Labyrinth aus Hecken in knalligen Farben. Es leuchtete sehr schön.
Ich hörte Töne. Ich wusste nicht mehr, wo ich war. Etwas sog mich ins Labyrinth hinein. Es war nicht schrecklich, sondern schön. Aber weiter wollte ich nicht gehen. Dann kam eine farbige Gestalt auf mich zu. Ich konnte mich nicht wehren. Es tat unheimlich weh, als sie mir mit ihren spitzen Fühlern in Nase, Mund und Ohren fuhr und meine Sinne zerstörte. Ich schrie vor Schmerzen.
Aber dann sah ich meine Frau, und sie gab mir die nötige Kraft. Ich erwachte. Mein Arzt meint, dass das der Moment der grössten Krise war - zum Glück für mich mit einer Wendung zugunsten des Lebens.
Aufgezeichnet: Ursula Angst-Vonwiller
Nahtod-Erfahrungen: Beweise gibt es keine
Was Sterbende spüren und erleben, weiss niemand genau. Es gibt keine klaren, wissenschaftlich beweisbaren Fakten.
- Ab und zu gibt es aber Leute, die nach einer Zeit klinischen Totseins erwachen und von Erlebnissen aus einer Übergangszone zwischen Leben und Tod erzählen.
- Da sich die Bilder - Labyrinth, Tunnel, helles Licht, Farben, sanfte Musik - ähneln, deuten viele Intensivmediziner solche Erlebnisse als Phänomene des kollektiven Erinnerns und nicht als Beweise für ein Leben im Jenseits.
- Allgemein anerkannt ist hingegen, dass Koma-Patientinnen und Patienten Gespräche hören und Situationen wahrnehmen können. In manchen Intensivstationen spielt man den Kranken deshalb ihre Lieblingsmusik per Kopfhörer ab.
Bücher
- Elisabeth Kübler Ross: «Interviews mit Sterbenden», Knaur, Fr. 18.-
- Kenneth Ring: «Im Angesicht des Lichts», Ariston, Fr. 42.10
- Evelyn Elsaesser: «Erfahrungen an der Schwelle des Todes», Ariston, Fr. 42.10