Meine Probleme habe ich jahrelang überspielt. Mein Chef und die Arbeitskollegen sollten nicht merken, was mit mir los ist. Man sah mir die Hirnverletzung ja auch nicht an.
Seit ich mich geoutet habe, geht es mir besser. Ich habe meine Stelle gekündigt – und damit ist der Leistungsdruck weitgehend weg. Von der IV erhalte ich eine Dreiviertelsrente. Vor zwei Jahren liess ich mich zum Energieberater ausbilden und hoffe, bald eine Teilzeitstelle zu finden. Denn ich habe gerne Kontakt mit Kunden.
32 Jahre liegt mein Unfall nun zurück. Ich fuhr mit dem Velo zur Arbeit – ohne Helm. Als mich ein Autofahrer überholte und rechts abbog, touchierte er mein Vorderrad. Er fuhr davon. Ich wurde auf den Boden geschleudert und erlitt eine Schädelbasisfraktur. Das weiss ich aus dem Unfallprotokoll. Ich selbst kann mich an nichts mehr erinnern, ich lag zwei Wochen im Koma.
Danach wollte ich sofort nach Hause. Ich arbeitete als Abteilungsleiter in einem Elektrizitätswerk. Den Job wollte ich nicht verlieren. Deshalb begann ich nach nur drei Wochen bereits wieder zu arbeiten, zuerst 50, kurze Zeit später 100 Prozent.
Wochenlang hatte ich fast unerträgliche Kopfschmerzen. Dank der Behandlung bei einem homöopathischen Arzt war ich bald wieder beschwerdefrei. Eine zweijährige Psychotherapie half mir, zumindest mit meinen Nächsten offen über meine Probleme zu sprechen.
Seit dem Unfall habe ich Mühe, mich auf Neues einzustellen. Zudem bin ich schnell gestresst und reizbar. Erst zehn Jahre später machte mich ein guter Kollege darauf aufmerksam, dass ich sehr vergesslich sei. Darauf liess ich mich nochmals untersuchen. Die Ärzte fanden heraus, dass mein Kurzzeitgedächtnis wegen des Schädel-Hirn-Traumas nicht mehr gut funktioniert. Mit der Zeit wurde mir alles zu viel. Obwohl meine Frau sehr einfühlsam ist, hatten wir immer mehr Differenzen. Ich suchte nach Lösungen und besuchte die Treffen für Hirnverletzte von Fragile Suisse. Danach rief ich die Helpline an und fühlte mich sofort verstanden. Die Sozialarbeiterin ordnete eine neurologische Untersuchung an. Sie ergab massive Hirnverletzungen mit neuropsychologischen Funktionsstörungen.
Dieser Befund machte mir sehr zu schaffen. Gleichzeitig war ich froh, endlich eine klare Diagnose zu haben. Denn meine Hausärztin hatte mich nie ernst genommen. Doch die Tatsache, dass ich schon 32 Jahre lang IV-berechtigt gewesen wäre, gab mir zu denken.
Zum Glück kann ich mit meiner Frau über alles reden. Damit sie mich noch besser versteht, besuchte sie einen Kurs für Angehörige von hirnverletzten Menschen. Wir geniessen nun zusammen die schönen Seiten des Lebens. Und ich singe nach wie vor mit grosser Leidenschaft in einem Shanty-Chor.
Hirnverletzung: Oft bleibende Schäden
Jedes Jahr erleiden in der Schweiz rund 3000 Menschen durch einen Unfall eine Hirnverletzung. Wie sie sich auswirkt, hängt davon ab, welche Hirnregion betroffen ist.
Die gesundheitlichen Schäden sind oft irreversibel. Dazu gehören Depressionen, Kopfschmerzen, Verlust der Sprache, Gleichgewichts- und Bewegungsstörungen. Zudem können die intellektuellen Fähigkeiten verloren gehen. Auch die Persönlichkeit kann sich verändern.
Informationen und Hilfe für Betroffene und Angehörige
Fragile Suisse, Schweizerische Vereinigung für hirnverletzte Menschen, Gratis-Helpline: Tel. 0800 256 256,
www.fragile.ch