Der Zürcher Geschäftsmann Hanspeter Giger besitzt an einem Südhang oberhalb von Affoltern am Albis ZH ein Grundstück an prächtiger Lage. Zusammen mit einem Geschäftspartner wollte er die Parzelle überbauen und etwas realisieren, das nachhaltig und ökologisch vorbildlich ist: «Wegen des guten Rufs entschieden wir uns, die Wohnhäuser mit 19 modernen Mietwohnungen nach dem Minergie-Standard zertifizieren zu lassen.» Minergie ist das führende Label für energieeffizient erstellte Wohn- und Geschäftsgebäude (siehe Kasten).
Doch die hehren Ziele landeten hart auf dem Boden der Baurealität. In Gigers Büro stehen über 40 Bundesordner voll mit Fotos, Dokumenten und Gutachten. Sie belegen Mängel und Schummeleien der gröberen Sorte. Mit verschiedenen beteiligten Unternehmern ficht Giger inzwischen acht Gerichtsfälle aus.
«Der grösste Teil davon betrifft die Gebäudehülle, Lüftung und Heizung, also die vom Gütesiegel Minergie zertifizierten Elemente», erklärt Giger. So wurden laut Giger bei der Lüftungsanlage nachweislich Messungen gefälscht. Und auf dem Dach oder bei Glaskuppeln verbauten die Handwerker nicht die bestellten Materialien bester Qualität, sondern nur billige Bauteile. Dies geht aus einem Gutachten der Prüfstelle Gebäudetechnik der Hochschule Luzern hervor. Der Verein Minergie hat der beteiligten Lüftungsfirma inzwischen die Fachpartnerschaft entzogen. Diese Firma darf das Label also nicht mehr zu Werbezwecken einsetzen.
Ernsthafte Probleme bei der Qualitätskontrolle sieht auch Daniel Cathomen vom Fachverband der Beleuchtungsindustrie FVB: «Der zunehmende Erfolg vieler Labels führt dazu, dass die Qualität bei der Umsetzung je länger, desto mehr leidet und der Bauherr nicht immer das erhält, was ihm bei der Planung versprochen wurde.» Es brauche unbedingt mehr Qualitätskontrollen. «Darin ist man sich in der Branche heute einig. Sonst besteht die Gefahr, dass die gute Idee vieler Gebäudelabels verwässert wird», warnt Cathomen.
Zum Thema Qualitätskontrolle sagt Christof Meier, Energieberater beim Hausverein Ostschweiz: «Liefert ein Generalunternehmer statt Fenster mit einem extrem guten Wärmedämmwert eine viel schlechtere Qualität, merkt das kein Mensch.» In der Summe kann der Unternehmer aber ein Vermögen sparen, wenn er von den Plänen und Bestellungen abweicht und nur Produkte billigster Machart liefert. Doch der Käufer und Bauherr zahlt dafür doppelt: Denn zum einen hat er am Schluss ein minderwertiges Gebäude, zum anderen liegen der Energieverbrauch und die Nebenkosten über viele Jahre wesentlich höher als sie sollten.
Um alle Baustellen zu kontrollieren, wo entweder nach gesetzlichen Standards oder nach dem Minergie-Label gebaut wird, müssten Heerscharen von Kontrolleuren unterwegs sein. «Eine wirklich konsequente Überwachung der Standards ist leider unrealistisch», so Meier.
Laut Christian Röthenmund, Geschäftsführer des Vereins Minergie, werden auf mindestens 10 Prozent der Baustellen Kontrollen durchgeführt: «Lässt sich ein Unternehmer mehrmals Verstösse zuschulden kommen, führen wir sogar bei allen seinen Projekten Kontrollen durch.»
Trotzdem erwächst dem Minergie-Label in Fachkreisen zunehmend Widerstand. Der Zürcher Architekt Michael Hufschmid hält zum Beispiel fest: «Minergie schränkt die Planer von der Konstruktion bis zur Auswahl von Bauteilen immer mehr ein.» Wenn ein Bauherr zum Beispiel ein Gebäude nach dem strengeren Standard Minergie-P realisieren will, kommen praktisch nur noch die von Minergie anerkannten und zertifizierten Bauteile infrage. «Das ist, als ob man nur noch kassenpflichtige Produkte verwenden kann», so Hufschmid. Das Öko- und Nachhaltigkeitslabel drohe so zu einer reinen Vertriebsförderung zu verkommen. Hufschmid kritisiert: «Im Spannungsfeld zwischen Ökologie und Kommerz gewinnt inzwischen das Geschäft immer mehr die Oberhand.»
Experte Christof Meier sieht ein weiteres Problem: «Nach meiner Einschätzung werden noch immer etwa 70 Prozent aller Häuser mit falschen Wärmedämmungen ausgestattet.» Allzu oft handle es sich um Styroporplatten (auch EPS- oder XPS-Platten genannt). «Die sind billig und einfach zu montieren», so Meier. Dieser Dämmstoff basiere auf Erdöl, sei nicht atmungsaktiv und verursache bei der Entsorgung Schadstoffe. Wenn wirklich die Nachhaltigkeit im Vordergrund steht, sollte man natürliche Materialien und regional produzierte Bauteile verwenden.
Die in der Branche kontrovers diskutierten Ausführungsprobleme sind auch Minergie-Geschäftsführer Christian Röthenmund bekannt: «Die Qualitätssicherung ist matchentscheidend.» Das sei aber nicht nur ein Problem von Minergie, betont Röthenmund. Künftig wolle der Verein Minergie über die Planung hinaus besser überwachen, ob die Baumassnahmen korrekt umgesetzt werden.
Ausserdem sei Minergie damit beschäftigt, ein Monitoring-Konzept zu entwickeln, um den Energieverbrauch von Gebäuden im Betrieb erfassen zu können. Röthenmund weiter: «Wichtige Entscheide sind noch nicht spruchreif, wir befassen uns aber intensiv mit diesen Fragen.»
Tipps: So einfach kann Energie gespart werden
- Jedes Grad zählt: Beim Heizen steigen mit jedem Grad mehr die Kosten und der Energieverbrauch um rund 6 Prozent.
- Bilanz ziehen: Viele Haushalte kommen auf einen Energieverbrauch von rund 20 000 Kilowattstunden pro Jahr für Heizung, Warmwasser und Strom – viel zu viel. In einem gut gedämmten Haus mit modernen Geräten reichen auch 5000 bis 6000 Kilowattstunden. Darum: Ermitteln Sie Ihren Gesamtverbrauch aufgrund von Stromrechnung und Energieeinkauf für Heizung/Warmwasser. (Anleitung dazu: K-Geld 5/2012).
- Der Internet-Rechner www.energybox.ch bewertet den Energieverbrauch und zeigt das Sparpotenzial.
- Haushalt: Geräte der Effizienzklasse A+++ benötigen viel weniger Energie (siehe www.topten.ch). Wer für die Beleuchtung LED-Lampen wählt und Standby-Geräte wie TV, Musikanlage, Computer usw. mit einer Stromschiene vom Netz trennt, hat erhebliches Sparpotenzial.
Label: Minergie
- Minergie wurde von den Kantonen Zürich und Bern lanciert, um einen Standard für energiesparende Gebäude zu etablieren. Heute wird der Verein Minergie aber vor allem vom Baugewerbe getragen, also in erster Linie von Lieferanten für Fenster, Dämmung, Heizung und Lüftung.
- Seit der Zertifizierung des ersten Gebäudes im Jahr 1998 hat der private Verein Minergie seine Produktepalette erweitert. So sind heute mehrere Labels erhältlich, die teils auch kombiniert werden können. Minergie-Bauten nach klassischem Minergie-Standard haben eine gute Wärmedämmung und eine automatische Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung.
- Ein Minergie-Neubau benötigt pro Jahr und Quadratmeter beheizter Wohnfläche nicht mehr als 38 kWh Energie (3,8 l Heizöl). Minergie-P sieht noch tiefere Grenzwerte vor, während Minergie-Eco den Energiestandard mit ökologischem Bauen kombiniert.