Mythos vom gesunden Glas Wein wankt
Eine neue grosse Langzeitstudie zeigt: Alkohol scheint auch in kleinen Mengen schädlicher als bisher angenommen.
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saldo 02/2012
28.01.2012
Letzte Aktualisierung:
31.01.2012
Marc Mair-Noack
Wer sich zum Essen regelmässig ein Glas Rotwein genehmigt, hörte die Meldungen der letzten Jahre gerne: Eine geringe Menge Wein täglich hat laut mehreren Studien positive Auswirkungen auf die Gesundheit. Die Begründung: Die organischen Verbindungen im Rotwein schützen vor koronaren Herzerkrankungen und senken den Cholesterinspiegel.
Als Grenzwert gilt gemäss dem Deutschen Institut für Ernährungsforschung: Männer sollten an höc...
Wer sich zum Essen regelmässig ein Glas Rotwein genehmigt, hörte die Meldungen der letzten Jahre gerne: Eine geringe Menge Wein täglich hat laut mehreren Studien positive Auswirkungen auf die Gesundheit. Die Begründung: Die organischen Verbindungen im Rotwein schützen vor koronaren Herzerkrankungen und senken den Cholesterinspiegel.
Als Grenzwert gilt gemäss dem Deutschen Institut für Ernährungsforschung: Männer sollten an höchstens fünf Tagen pro Woche nicht mehr als zwei Gläser alkoholische Getränke trinken, Frauen nicht mehr als eines. Als ein Glas gelten eine Stange Bier (0,33 l) oder ein Achtelliter Wein.
Laut WHO «Keine substanziellen positiven Wirkungen»
Doch solche Aussagen könnten leicht zum Trugschluss führen, Alkohol tauge auch als Medizin. Christian Müller, Kardiologe am Universitätsspital Basel, warnt: «Nichttrinker sollten auf keinen Fall damit anfangen, weil sie meinen, damit etwas für die Gesundheit zu tun.» Und niemand wisse, ob sich daraus eine Abhängigkeit entwickle.
Ein positiver Effekt auf das Herz-Kreislauf-System ist laut einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation WHO höchstens bei Menschen über 70 Jahren erwiesen.
In der Altersgruppe unter 40 seien dagegen «keine substanziellen positiven Wirkungen» beobachtet worden. Wer mehr als die empfohlene Menge trinkt, habe in jedem Alter ein erhöhtes Krankheitsrisiko.
Langzeitstudie: Alkohol ist häufige Ursache für Krebs
Neue Studien zeigen nochmals ein anderes Bild: Bereits geringe Alkoholmengen können schädlicher sein als bisher angenommen. Eine 2011 ausgewertete grosse europäische Langzeitstudie untersuchte den Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Krebs. Ergebnis: Ursache für die Krebserkrankung bei Männern war der Alkohol in 10 Prozent der Fälle, bei Frauen in 3 Prozent. Die meisten Erkrankungen entstehen bei einer Alkoholmenge über dem empfohlenen Grenzwert.
Doch auch weniger Wein und Bier sind nicht harmlos. Madlen Schütze, Autorin der Studie und Epidemiologin am Deutschen Institut für Ernährungsforschung, betont: «Der Grenzwert bedeutet nicht, dass ein geringerer Konsum gesund ist.» Selbst bei kleinen Mengen gebe es ein gesteigertes Risiko, an Krebs zu erkranken. Gesünder sei es, ganz auf Alkohol zu verzichten.
Die Meinung, dass Alkohol und besonders Rotwein gesund sei, hält sich schon lange. Grund waren Beobachtungen in Frankreich in den 1990er-Jahren. Wissenschafter sprechen seither vom «französischen Paradox»: Trotz fettreicher Nahrung leiden Franzosen seltener an koronaren Herzerkrankungen als die Leute in anderen Ländern mit ähnlichem Speisezettel. Den Grund für diesen überraschenden Befund sehen einige Forscher im höheren Rotweinkonsum der Franzosen.
Studien werden nur bei gewünschten Resultaten publiziert
Studien wiesen in der Folge tatsächlich nach, dass moderate Trinker gesünder sind als Nichttrinker. Doch der Vergleich bleibt umstritten. Die Soziologin Kaye Fillmore aus San Francisco analysierte 2006 zahlreiche dieser Untersuchungen und entdeckte mehrere methodische Mängel. So würde man in vielen Studien auch Menschen zu den Nichttrinkern zählen, die aus gesundheitlichen Gründen abstinent leben. Auch ehemalige Alkoholiker, mit all ihren gesundheitlichen Problemen, zählten zu dieser Gruppe.
Oft ist zudem unklar, aus welchen Gründen die mässigen Trinker gesund sind. Laut Fillmore würden moderate Trinker in der Regel auch Sport treiben, nicht rauchen und sich gesund ernähren. «Es ist schwierig, diese Dinge zu entflechten», schreibt sie in ihrer Studie.
Ein weiterer Kritikpunkt: Viele Studien sind nicht unabhängig. So fanden Forscher der Universität Mainz angeblich heraus, dass Rot- und Weisswein die Gefahr von Herzkrankheiten gleichermassen senken. Die Studie wurde von der deutschen Weinakademie unterstützt.
Die von der Industrie bezahlten Studien enthalten selten gefälschte Ergebnisse. Ihre Einflussnahme geschieht indirekt: Ergibt eine Studie nachteilige Resultate für die Industrie, wird sie nicht veröffentlicht. Das deutsche Bundesgesundheitsministerium beklagte schon 2005 das «selektive Veröffentlichen oder Verschweigen von Studienergebnissen».
Die schlechte Datenlage macht es schwer, klare Aussagen zur Wirkung von moderatem Alkoholkonsum zu machen. Kaye Fillmore kommt in ihrer Analyse zum Schluss, dass die positive Wirkung wahrscheinlich überschätzt wurde. Ganz ausschliessen will sie dies aber auch nicht. «Es gibt zu wenig fehlerfreie Studien.»