Salutogenese - So bleiben Sie gesund
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Gesundheitstipp 9/2000
01.09.2000
Ärzte richten ihren Blick zunehmend auf das Gesunde im Menschen
Immer mehr Ärzte erkennen: Nur Krankheiten zu behandeln genügt oft nicht. Es gilt, vermehrt das Gesunde im Menschen zu stärken. Dazu gehören auch Genuss und Lebensfreude.
Andrea Gerber (Name geändert) ist ein «anfälliges» Kind. Immer wieder leidet sie an Mittelohrentzündungen. Auch viele andere Infekte erwischt sie. Jedesmal verschreibt ihr der Hausarzt Antibiotika, um die Bakterien abzutöten...
Ärzte richten ihren Blick zunehmend auf das Gesunde im Menschen
Immer mehr Ärzte erkennen: Nur Krankheiten zu behandeln genügt oft nicht. Es gilt, vermehrt das Gesunde im Menschen zu stärken. Dazu gehören auch Genuss und Lebensfreude.
Andrea Gerber (Name geändert) ist ein «anfälliges» Kind. Immer wieder leidet sie an Mittelohrentzündungen. Auch viele andere Infekte erwischt sie. Jedesmal verschreibt ihr der Hausarzt Antibiotika, um die Bakterien abzutöten.
Als 12-Jährige wechselt Andrea den Hausarzt. Der neue verschreibt ihr bei der nächsten Mittelohrentzündung keine Antibiotika, sondern lässt sie die Krankheit durchstehen. Ein homöopathisches Mittel, Nasentropfen, Inhalationen und schmerzlindernde Wickel helfen ihr, wieder gesund zu werden.
Dann sucht der Arzt zusammen mit den Eltern nach Wegen, Andreas Widerstandskraft zu stärken. Er erkennt, dass Andrea an grossen Ängsten leidet, und versucht, dagegen etwas zu tun. Sie lernt, gesünder zu essen, meldet sich in einem Sportklub an und gewinnt langsam an Selbstvertrauen. Eine Mittelohrentzündung hatte sie seither nie wieder.
Gesundheit fördern, statt Krankheit bekämpfen
Was Andreas alter Hausarzt machte, ist, was die Schulmedizin lehrt und was viele Patienten erwarten: Er bekämpft die Bakterien und Viren, die die Infektion verursachen.
Was ihr neuer Hausarzt machte, ist typisch für salutogenetisches Denken. Er suchte nach Gründen für die schwache Widerstandskraft und versuchte auf verschiedenen Wegen, ihre Gesundheit zu fördern.
Immer mehr Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz beziehen die zweite Denkweise in ihre Arbeit mit ein. Etwa Luzi Dubs, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Orthopädie. «Vor einigen Jahren begann ich mich zu fragen, ob ich eigentlich das Richtige mache», sagt der Winterthurer Orthopäde.
Denn so einfach, wie er es im Studium gelernt hatte, war die Sache oft nicht: Da gab es Leute mit erheblichen Knorpelschäden in den Knien, die nur leichte Schmerzen hatten. Andere dagegen konnten kaum gehen, das Röntgenbild zeigte aber einwandfreie Gelenke. Und wieso liess bei manchen Personen nach einem Bagatellunfall der Schmerz nicht nach, obwohl organisch längst alles wieder in Ordnung war, während bei anderen der Schmerz nach einem Trümmerbruch im Nu verschwand?
Der israelische Medizin-Soziologe Aaron Antonovsky (1923-1994) hatte sich ähnliche Fragen gestellt. Er hatte die emotionale Gesundheit von Frauen untersucht, die im zweiten Weltkrieg im Konzentrationslager gewesen waren. Das Resultat war eigentlich nicht weiter erstaunlich. KZ-Überlebende fühlten sich seltener gesund als Frauen einer Kontrollgruppe - 29 Prozent im Vergleich zu 51 Prozent.
Antonovsky fiel aber etwas anderes auf: Er fand es bemerkenswert, dass sich überhaupt jede dritte Frau, die im KZ gewesen war, gesund fühlte. Wie war das möglich, nach all den erlebten Gräueln?
Er begann, nach Gründen zu suchen, warum manche Menschen trotz enormer Stressbelastung gesund bleiben. Und nannte diesen wissenschaftlichen Ansatz Salutogenese - im Gegensatz zur Pathogenese, die nach Krankheitsursachen forscht.
Salutogenetiker gehen davon aus, dass man die Zustände von Gesundsein und Kranksein nicht eindeutig unterscheiden kann. Der Mensch befindet sich vielmehr ständig irgendwo dazwischen, stellt seine Gesundheit jeden Tag neu her. Das Zentrale im salutogenetischen Denken ist deshalb: nicht einzig das Krankmachende zu beseitigen oder verhindern, sondern vor allem die gesund machenden Faktoren zu fördern. Dies ist auch dann möglich, wenn sich etwa ein Tinnitus, Rheuma oder eine andere schwere Krankheit nicht vollständig heilen lässt. Gerade in solchen Fällen geraten Ärzte mit dem üblichen Suchen von Krankheitsursachen häufig an den Rand der Verzweiflung. «80 Prozent aller Patienten haben chronische Beschwerden», sagt Luzi Dubs. «Bei vielen nützen die üblichen Therapien nichts.»
Oft findet sich nicht einmal eine körperliche Ursache, die sich behandeln liesse. «Man muss immer fragen, ob alle Leute mit derselben Schädigung dieselben Beschwerden haben», sagt der Winterthurer Orthopäde. «Wenn nicht, muss man sich fragen, ob man tatsächlich das Problem löst, wenn man die Schädigung zu beheben versucht.»
Luzi Dubs rät mittlerweile immer öfter - auch bei nachgewiesener Schädigung - von Operationen ab, wenn er vermutet, dass die Beschwerden dadurch nicht markant besser werden. Dafür nimmt er sich die Zeit herauszufinden, was der Patient eigentlich braucht: «Will er den Alltag wieder bestehen können oder sportliche Höchstleistungen erbringen? Was kann man tun, damit er sich weniger stark eingeschränkt fühlt? Was kann der Patient selber beitragen? Lebt er unter Ängsten oder Zwängen, die den Schmerz begünstigen?»
Für Hansueli Albonico, Allgemeinarzt aus Langnau BE gehört dazu auch, Vertrauen zurückzugewinnen: in den eigenen Körper, in die natürlichen Heilungsverläufe. «Wenn man Patienten die Angst nehmen kann und ihnen zeigt, dass sie mit einer Krankheit auch leben können, kann man Erstaunliches erreichen.»
Lebensfreude stärkt die Gesundheit
Wer salutogenetisch denkt, fördert seine Gesundheit aber nicht erst, wenn er krank ist, sondern jeden Tag, auch wenn er keine Beschwerden hat. Er beugt vor, aber nicht ängstlich, sondern aus Freude darüber, sich Gutes zu tun.
Was genau die Gesundheit fördert, lässt sich zwar wohl nie abschliessend erforschen. Immerhin gibt es einige Hinweise:
- Antonovsky kam im Laufe seiner Forschung zum Schluss: Menschen, die Vertrauen in ihr Leben haben, Schwierigkeiten und Probleme als verstehbar erfahren und ihnen einen Sinn abgewinnen können, haben die besseren Chancen, gesund zu bleiben - oder wieder zu werden.
- Positiv wirken sich Bildung, eine zufriedenstellende Arbeit, gute Freunde und Familie aus. Dies ist nicht immer einfach zu beeinflussen, doch zumindest sein Beziehungsnetz kann jeder verbessern.
- Körperliche Fitness, ausgewogene Ernährung, Musse und Entspannung im Alltag sind Aspekte, die man selbst in der Hand hat.
- Alternativmedizin kann dabei helfen, natürliche Heilkräfte zu stimulieren.
- Die Genussforschung findet immer mehr Beweise, dass lustvolles Geniessen - wobei klar zu unterscheiden ist von Sucht - die Gesundheit ebenfalls fördert. Geniessen meint damit nicht nur Genussmittel, sondern auch Musik, eine Massage, gute Gespräche oder was immer einem Spass macht.
Oswald Oelz, Chefarzt am Zürcher Triemlispital, unterstützt dies. Auch er möchte Gesunde wie Kranke dazu ermuntern, ihr Leben so gut wie möglich zu geniessen und sich lustvoll an Gesundem zu erfreuen.
Denn wie Antonovsky sagte: «Wir sind alle dem Tode geweiht, aber solange in uns noch ein Lebensfunke brennt, sind wir bis zu einem bestimmten Grad gesund.»
Anita Baumgartner
Gesundheitsvorsorge auf die lustvolle Art
Mediterran essen, sich regelmässig bewegen, jeden Abend ein Glas Wein - das rät Chefarzt Oswald Oelz.
«Wir Ärzte schreiben den Patienten oft Regeln vor, die fast wie die zehn Gebote tönen: Du sollst nicht rauchen, du sollst nicht zu viel essen, du sollst deine Tabletten nehmen - gegen Cholesterin, gegen hohen Blutdruck und für das Herz.
Medikamente sind oft nötig, um mehr Gesundheit zu erreichen. Manchmal aber tun wir des Guten zu viel und vergessen weit lustvollere Methoden der Gesundheitsvorsorge. Dabei könnten diese die Schulmedizin sinnvoll und günstig ergänzen.
Ein solch lustvoller Tag würde mit frischem Obst und Nüssen beginnen. Regelmässiger Nusskonsum senkt nämlich schädliche Blutfette und verhindert das Fortschreiten der Arteriosklerose.
Arbeiten - mit Freude! - macht gesunden Appetit aufs Mittagsmahl. Dieses enthält nach mediterraner Art Pasta, Gemüse, Salate mit viel Olivenöl und Fisch oder Geflügel. Dazu regelmässig Brot und andere Getreideprodukte. Nur rotes Fleisch sollte nicht zu oft auf den Tisch.
Eine solche Ernährung senkt wirksamer als jede medikamentöse Behandlung das Risiko, an Herzinfarkt oder Hirnschlag zu erkranken oder zu sterben. Die Studien dazu sind überzeugend. Trotzdem beachten sie Herzspezialisten kaum; man verschreibt lieber Medikamente.
Der Nachmittag ist wieder lustvoller Arbeit reserviert oder - etwa nach der Pensionierung - einem langen Spaziergang im Wald. Wie lange man lebt, hängt direkt zusammen mit der Anzahl Kilometer, die man pro Tag läuft. Ein bis zwei sind ein bescheidener Anfang, sechs bis acht Kilometer erhöhen die Lebenserwartung deutlich.
Nach solch entspannendem Tun stellt sich wiederum wohliger Hunger ein, der auf mediterrane Weise gestillt wird. Dabei sollte man zumindest am Abend ein Glas Wein konsumieren, eine Empfehlung, die ich fast jedem Herzpatienten mache. Oft rufe ich dabei ungläubiges, aber glückliches Staunen hervor. Die Patienten trauten sich nicht zu fragen, sind aber hocherfreut, dass ihnen der Doktor solches vorschlägt. Es gibt tatsächlich in der Literatur über Vorbeugung von Herzinfarkt und Angina Pectoris kaum eine überzeugendere Beziehung als jene, dass regelmässiger, mässiger Weinkonsum wirksam ist. In solch lustvollem Programm darf schliesslich die körperliche Liebe nicht fehlen. Auch sie ist ein echtes Lebenselixier.
Natürlich sterben wir alle einmal. Wir sterben aber wahrscheinlich später und sicher haben wir glücklicher gelebt, wenn wir uns auf diese Weise Gutes tun.»