Dreck schadet nicht. Das wussten schon unsere Grosseltern. Jetzt hat die Basler Forscherin Charlotte Braun-Fahrländer herausgefunden: Bauernkinder und ihre Spielkameraden erkranken seltener an Allergien als Kinder, die anderswo aufwachsen.
Claudia Peter cpeter@pulstipp.ch
Den ersten Asthma-Anfall erlitt Manuela bereits mit zwei Jahren. «Danach war vier Jahre lang Ruhe», erinnert sich Christine Näf, die Mutter des heute 9-jährigen Mädchens aus Adliswil ZH. Doch auch in dieser Zeit hatte Manuela ständig Husten. Sie geriet beim Sport schnell ausser Atem und nahm körperliche Anstrengungen höchst widerwillig in Kauf. Vor einem Vierteljahr stellte ein Sportarzt das Asthma erneut fest.
Nachts gerät Manuela manchmal in Panik, wenn sie nicht richtig atmen kann. Inzwischen haben die Ärzte bei ihr eine Allergie gegen Hausstaubmilben festgestellt, die wahrscheinlich die Ursache für das Asthma ist. «Teppiche und Vorhänge haben wir deshalb abgeschafft», sagt die Mutter. Sie glaubt, dass Manuela im Grossen und Ganzen gut mit der Krankheit zurechtkommt. Das Wichtigste ist für sie: Wenn Manuela regelmässig ihre Medikamente nimmt, hat sie gute Aussichten, das Asthma im Laufe ihrer Jugendzeit wieder zu verlieren. Auch zwei von Manuelas drei Geschwistern haben Asthma oder Heuschnupfen.
Die Kinder der Familie Näf sind keine Einzelfälle. Die Anzahl der Kinder, die von Allergien betroffen sind, ist in den letzten Jahren dramatisch gestiegen - und stagniert nun auf einem hohen Niveau. Neueste Untersuchungen zeigen: In manchen Gegenden Westeuropas leidet heute bereits jedes dritte Kind an Asthma. In der Schweiz trifft es jeden zehnten Schüler - und fast jeder fünfte leidet an Heuschnupfen. Das belegen Studien von 1999.
Das müsste nicht sein: Bei vielen Kindern könnte man die Krankheit verhindern. In einer Aufsehen erregenden Studie kommt die Basler Präventionsmedizinerin Charlotte Braun- Fahrländer zu einem verblüffenden Ergebnis: Würden sich Kinder häufiger auf einem Bauernhof aufhalten, hätten sie viel weniger Heuschnupfen und Asthma. Gemeinsam mit bayerischen und österreichischen Kollegen hat die Ärztin 3000 Landkinder auf Allergien untersucht. Ihre Ergebnisse hat sie kürzlich im renommierten britischen Fachblatt «Lancet» veröffentlicht:
- Am besten ist es, wenn Kinder im ersten Lebensjahr täglich rohe Kuhmilch trinken und Zeit im Stall verbringen.
- Kinder, die im ersten Lebensjahr entweder nur mit Rohmilch oder nur mit Ställen in Berührung kamen, erkranken selten an Asthma oder Heuschnupfen.
- Nach dem ersten Lebensjahr bewahren Stallatmosphäre und Rohmilch die Kleinen noch längere Zeit vor den Krankheiten. Charlotte Braun- Fahrländer: «Wir haben noch bei fünfjährigen Kindern einen gewissen Schutz festgestellt.»
- Geschützt sind nicht nur Bauernkinder, sondern auch Spielkameraden, die sich häufig auf dem Hof aufhalten. Bei ihnen ist der Schutz zwar schwächer, aber immer noch messbar stärker als bei Kindern, die nie auf Bauernhöfen waren.
Bauernhof-Bakterien trainieren das Immunsystem
Braun-Fahrländer erklärt dies so: «Die Bakterien auf dem Hof trainieren das kindliche Immunsystem.» Wie das genau funktioniert, ist noch nicht vollständig erforscht. Aber erste Faktoren hat das internationale Wissenschaftler-Team bereits gefunden. Der Staub im Küchenfussboden und in Kinderbetten enthielt bei Bauern Teile von Bakterienhüllen, die das Immunsystem aktivieren. Die gleichen Bakterienhüllen konnten die Forscher im Stall nachweisen.
Sie fanden heraus: Je früher im Leben ein Kind der Bauernhof-Umgebung ausgesetzt ist, desto besser. Dies gilt bereits während der Schwangerschaft. Keines der untersuchten Kinder erkrankte an Asthma, wenn die Mutter während der Schwangerschaft täglich auf dem Hof gearbeitet hatte. Auch Heuschnupfen kam bei diesen Kindern kaum vor.
Szenenwechsel: Der Stall ist warm und von behaglichem Rotlicht erhellt. Im Schein eines Infrarot-Strahlers wuseln 22 junge Zicklein. Sie sind genauso neugierig wie das Stadtkind Tizian. Im Handumdrehen ist der 5-Jährige aus Zürich zu den Geissen in die Box geklettert und lässt sich ohne Scheu beschnuppern und beknabbern. Tizians Gschpänli von der Kinderkrippe folgen eher zögernd. Aber bald balgen sich fünf Kinder fröhlich mit den Tieren.
Tizians Mutter Barbara Pfaffen ist die Leiterin der Krippe. Sie ist schon früher mit den Kindern häufig auf den Bauernhof gegangen. Allerdings aus pädagogischen Gründen: «Die Kinder sollen eine Verbindung zur Natur bekommen. Sie sollen wissen, dass die Milch von der Kuh kommt und nicht aus der Flasche», erklärt sie. Es überrascht Barbara Pfaffen allerdings nicht, dass Aufenthalte auf Bauernhöfen dazu beitragen, Allergien zu verhindern. «Dreck schadet nicht. Das haben wir schon von unseren Grossmüttern gelernt», meint sie. Nur sei dieses Wissen von einem «manchmal übertriebenen» Reinlichkeitsbedürfnis verdrängt worden.
Einmal im Monat auf dem Bauernhof zu spielen, reicht allerdings kaum aus, damit der Körper Allergien abwehren kann. Das weiss auch Barbara Pfaffen. Aber sie sieht für Stadtkinder viele Möglichkeiten, Bauernhofluft zu schnuppern: «Die Eltern können zum Beispiel ihr Gemüse vom Bauernhof holen. Oder sie verbringen dort ihre Ferien.»
Markus Gassner, Schularzt in Grabs SG, sieht seine eigenen Beobachtungen durch die Studie bestätigt. Gassner ist einer der Wegbereiter der Allergieforschung bei Kindern in der Schweiz. Seit fast zwanzig Jahren misst er allergische Erkrankungen bei 15-jährigen Schülern aus Grabs. Daraus ist über die Jahre hinweg eine riesige Datensammlung entstanden. Fazit von Gassner: «Bauernkinder erkranken bis heute sehr selten an Asthma oder Allergien.» Internationale Studien bestätigen seine Beobachtungen: In Westeuropa gibts rund zehnmal mehr kleine Asthmatiker als in den stark auf die Landwirtschaft orientierten Ländern Osteuropas.
Wer eine Allergie hat, muss weitere Auslöser vermeiden
Doch die Studie von Braun-Fahrländer hat auch Kontroversen in der Fachwelt ausgelöst. Denn die Medizinerin rüttelt mit ihren Ergebnissen an althergebrachten Regeln. So empfehlen viele Allergologen seit Jahren, dass man kleine Kinder zum Schutz vor Allergien von Tierhaaren fern halten sollte. Ähnlich ist es bei der Kuhmilch: Sie gilt im ersten Lebensjahr als verboten, weil sie Allergien auslösen kann. Die Zahlen aus der Studie zeigen aber deutlich: Kinder, die im ersten Jahr rohe Kuhmilch trinken, erkranken bedeutend seltener an Allergien. Der Kontakt mit Ställen schützt laut Studie genauso gut. Dort gibt es aber Tierhaare.
Was stimmt nun? «Beides», sagt Charlotte Braun-Fahrländer: «Die heute üblichen Vorsichtsmassregeln sind für Kinder gedacht, die bereits eine Allergie haben», erklärt sie. «Unsere Ergebnisse betreffen aber Kinder, bei denen eine allergische Krankheit gar nicht ausgebrochen ist.» Das heisst: Solange ein Kind noch keine Allergien hat, kann es sich positiv auswirken, das Immunsystem mit Stoffen wie Rohmilch oder Tierhaaren zu konfrontieren.
Ist eine allergische Krankheit bereits ausgebrochen, gilt das Gegenteil: Allergie-Auslöser muss man unbedingt vermeiden. Dafür sprechen auch die jüngsten Forschungen der Gruppe um Braun-Fahrländer. Danach könnte es sein, dass der ständige Kontakt mit Tierhaaren auch gesunde Stadtkinder vor Allergien schützt.
Für Brunello Wüthrich, Allergie-Experte am Unispital Zürich, reichen die «interessanten Beobachtungen» der Gruppe um Braun-Fahrländer nicht aus, um die alten Regeln umzustürzen. Es sei gut belegt, dass Tierhaare und Kuhmilch Allergien auslösen können, meint er. Überdies berge die Kuhmilch weitere Gefahren: Wer sie ungekocht trinkt, riskiert, wegen Bakterien zu erkranken. Das Kochen zerstört zwar diese Bakterien, nicht aber Substanzen, die Allergien auslösen Wüthrich rät: Wenn Eltern oder Geschwister an Neurodermitis, Heuschnupfen oder allergischem Asthma leiden, sollte man einem Baby zumindest während der ersten zwölf Monate keine Kuhmilch geben.
Ein Allergie-Risiko lässt sich leicht testen: 90 Prozent aller Allergien, darunter Heuschnupfen und allergisches Asthma, gehen zurück auf eine zu hohe Konzentration von Immunoglubulin E (IGE) im Blut.
Betroffene können eine oder mehrere dieser Allergien entwickeln. «Es kann aber auch sein, dass diese Menschen gesund bleiben», erklärt Arthur Helbling, Privatdozent am Inselspital Bern. Er unterstützt die Thesen der Präventionsspezialistin Braun-Fahrländer. «Man muss einige Lehrsätze der Allergie-Prophylaxe hinterfragen», erklärt er. Beim Thema Kuhmilch rät er allerdings zum Kompromiss. «Ich würde damit bei Kindern frühestens im 9. Lebensmonat anfangen. Dann ist das Immunsystem schon weiter entwickelt.» Und wie sollen Mütter die Zeit bis dahin überbrücken? «Stillen, solange wie möglich. Wer das nicht kann, soll hypoallergene Spezialmilch verwenden, wenn die Allergie noch nicht ausgebrochen ist.»
Allergien bei Kindern: Das können Sie dagegen tun
Allergien vermeiden oder lindern - bei anfälligen Kindern kann man viel dafür tun.
- Lassen Sie das Allergie-Risiko früh abklären.
- Babys in den ersten 4 bis 6 Monaten voll stillen.
- Kuhmilch ist für Kinder erst ab dem 10. Monat unproblematisch. Mögliche Allergie-Auslöser (Nüsse, Fisch, Soja, Hühnerei) im ersten Jahr vermeiden.
Bei Heuschnupfen
- Die Haare vor dem Schlafengehen mit Wasser ausspülen, damit keine Pollen den Schlaf stören.
- Getragene Kleider aus dem Schlafzimmer verbannen.
- Hängen Sie Wäsche nicht im Freien auf.
- Papier-Taschentücher zum Schnäuzen nur einmal verwenden.
Bei allergischem Asthma
- Halten Sie die Luftfeuchtigkeit und Raumtemperatur im Schlafzimmer des Kranken während der Heizperiode niedrig, regelmässig lüften.
- Verzichten Sie auf Haustiere und Grünpflanzen.
- Milbendichte Matratzenbezüge verwenden.
- Halten Sie Ihre Wohnung rauchfrei.
- Parkett/Kacheln für Böden, keine Spannteppiche.
Webtipps
- Zum Vorbeugen: Schlagen Sie den Allergien ein Schnippchen - bei Strohtouren. Stöbern möglich unter www.strohtouren.ch
- Zum Vorbeugen: Ferien und Einkaufen auf dem Bauernhof, siehe www.bauernhof.ch oder www.bauernbieten.ch. Für Bio-Produkte: www.bioterra.ch
- Täglich aktualisierte Infos über den Pollenflug: http://pollen.bulletin.ch/pollen_dt.html. Für Europa-Reisende: www.cat.at /pollen/forecast.de.html
- Schweiz. Zentrum für Allergie, Haut und Asthma: www.ahaswiss.ch; Elternvereinigung asthma- und allergiekranker Kinder (SEAAK) unter www.lungenliga.ch
- Produkte für Allergiker: www.allergiefachmarkt.ch/allergiehome.html