Lebten Sie mitten im Kriegsgebiet?
Milad Kourie: Ja. Unser Leben wurde je länger, je unerträglicher.
Waren Sie in Lebensgefahr?
Merna Ablahad: Ja. Überall schlugen Granaten und Bomben ein. Nachts konnten wir nicht schlafen. Ständig hörten wir Kanonenschüsse. Die Granaten schlugen in der Nähe ein, etwa 700 Meter von unserem Haus entfernt. Am meisten passierte am Nachmittag und in der Nacht. Nur am Morgen war es ruhig.
Milad Kourie: Jeden Morgen, wenn ich zur Arbeit ging, stellte ich mich darauf ein, dass ich meine Familie vielleicht nicht mehr sehen würde, wenn ich abends heimkomme. Ich war nicht sicher, ob sie dann noch am Leben sein würde. Ich hatte die wichtigsten Gegenstände in Koffer gepackt, damit wir notfalls schnell fliehen konnten.
Wie schützten Sie sich vor den Granaten?
Merna Ablahad: In unserem Haus gab es keinen Keller. Deshalb mussten wir nachts in der Wohnung bleiben. Also überlegten wir uns, wo wir am besten geschützt sind. Das war das WC, denn es liegt in der Mitte der Wohnung. Wir verbrachten die Nacht oft zu viert dort: Mein Mann und ich, sein Vater und seine Stiefmutter.
Zu viert im WC kann man nicht schlafen.
Milad Kourie: Das stimmt. Wir waren zudem oft nervös. Es war sehr gefährlich. Als ein Onkel von Merna uns besuchte, ging er auf den Balkon, um zu rauchen. Plötzlich traf ihn ein Artilleriegeschoss an der Schulter.
Wurden Sie auch verletzt?
Milad Kourie: Nein. Körperlich ist uns zum Glück gar nichts passiert.
Und seelisch?
Merna Ablahad: Psychisch war der Krieg schwer zu ertragen. Denn wir mussten schreckliche Sachen ansehen.
Was denn?
Milad Kourie: Als ich einkaufen ging, sah ich, wie eine Bombe unter einem Auto explodierte. Das war schlimm. Der Autofahrer wurde in zwei Stücke gerissen. Der Oberkörper des Mannes klebte am Dach des Autos. Nach diesem Erlebnis konnte ich drei Tage lang nichts essen.
Merna Ablahad: Auf der Strasse lagen tote Menschen, auch Kinder. Ich träume heute noch von ihnen.
Wann haben Sie beschlossen, zu flüchten?
Milad Kourie: Als ich im Geschäft bedroht wurde. Ich arbeitete in einem Goldschmiede-Atelier. Eines Tages kam eine Gruppe Männer in den Laden. Sie sagten: Entweder zahlst du 7 Millionen Lira, oder dir wird etwas Böses geschehen. Das sind über 36 000 Franken. Diese Drohung war dann der Hauptgrund für unsere Flucht.
Wer waren diese Männer?
Milad Kourie: Kriminelle. Wegen des Kriegs herrschte auch bei uns in der Stadt Hasaka das Chaos. Das machen sich Verbrecher zunutze.
Haben Sie den Männern das Geld gegeben?
Merna Ablahad: Nein. Mein Mann hat es nicht gezahlt. Wir hatten doch gar nicht so viel Geld. Uns war dann jedoch klar: Es ist höchste Zeit, Syrien zu verlassen.
Wie verlief die Flucht?
Milad Kourie: Wir fuhren mit einem Auto nach Beirut. Dort stellte uns die Schweizer Botschaft ein Besuchervisum aus. Und dann flogen wir in die Schweiz.
Warum haben Sie die Schweiz als Asylland gewählt?
Milad Kourie: Einer meiner Brüder lebt schon lange hier. Wir bekamen Visa, weil mein Bruder für uns garantierte.
Sie hatten Glück. Andere Flüchtlinge kommen nicht mit dem Flugzeug nach Europa: Sie müssen die gefährliche Reise übers Mittelmeer unternehmen.
Milad Kourie: Mein zweiter Bruder musste auf diese Weise fliehen. Er fuhr mit einem kleinen Boot nach Griechenland. Vor der griechischen Küste ging das Boot unter. Mein Bruder trieb vier Stunden im Wasser, bis er gerettet wurde. Dann reiste er teils zu Fuss, teils per Zug oder mit Autos über Mazedonien, Serbien und Österreich nach Deutschland. Auch eine meiner Schwestern kam mit einem Boot übers Mittelmeer.
Merna Ablahad: Meine Schwester erhielt in Holland Asyl. Aber viele meiner Verwandten blieben in Syrien. Ich mache mir grosse Sorgen um sie.
Haben Sie Heimweh nach Syrien?
Milad Kourie: Manchmal schon. Ich habe mein ganzes Leben in Syrien verbracht. Es ist nicht einfach, die alte Heimat zu vergessen. Als ich in die Schweiz kam, war ich oft traurig. Jetzt geht es mir besser.
Merna Ablahad und Milad Kourie
Die 26-jährige Merna Ablahad und der 34-jährige Milad Kourie kommen aus der Stadt Hasaka, die im Nordosten Syriens liegt. Kourie arbeitete als Goldschmied, seine Frau war Primarlehrerin. Vor zwei Jahren flüchteten die beiden in die Schweiz. Sie leben in Sins AG. Sohn Elias ist 18 Monate alt. Im November kommt sein Brüderchen zur Welt.