Testosteron - Männertraum: Knackiger Körper bis ins hohe Alter
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Gesundheitstipp 10/2000
01.10.2000
Risiken, Zweifeln und gegenteiligen Studien zum Trotz: Immer mehr Mediziner glauben an den Segen von Testosteron-Spritzen
Nun sollen auch ältere Männer Hormone spritzen, um Beschwerden ihrer Wechseljahre zu mildern. Experten bezweifeln zwar, ob es die überhaupt gibt. Doch der Lockruf der Männlichkeit übertönt so manche Risiken.
Für Andrew Sullivan ist die Prozedur fast schon zum Genuss geworden. Langsam lässt der amerikanische Journalist die Kanüle seine Ha...
Risiken, Zweifeln und gegenteiligen Studien zum Trotz: Immer mehr Mediziner glauben an den Segen von Testosteron-Spritzen
Nun sollen auch ältere Männer Hormone spritzen, um Beschwerden ihrer Wechseljahre zu mildern. Experten bezweifeln zwar, ob es die überhaupt gibt. Doch der Lockruf der Männlichkeit übertönt so manche Risiken.
Für Andrew Sullivan ist die Prozedur fast schon zum Genuss geworden. Langsam lässt der amerikanische Journalist die Kanüle seine Haut durchdringen, bis sie fünf Zentimeter tief im Hüftmuskel steckt. Dann injiziert er sich den öligen, golden schimmernden Inhalt der Spritze.
Der Stoff, den sich Sullivan in den Muskel spritzt, wurde in den letzten Jahrzehnten zum Sinnbild für Männlichkeit: Testosteron - männliches Hormon, das auch Sullivan in den Hoden produziert. Damit will er für einige Tage Lebensgeister, Manneskraft und Selbstbewusstsein auffrischen. Sullivan: «Innert Stunden spüre ich eine tiefe Welle der Energie.»
Testosteron hat den Weg vom Schwarzmarkt zum Massenphänomen geschafft. Bisher haben das Hormon vor allem Sportler und Bodybuilder weitgehend illegal benutzt, um ihren Körper in Form zu bringen. Hinzu kamen Männer mit einer seltenen Unterfunktion der Hoden.
Doch immer mehr Mediziner wollen uns ein mysteriöses Phänomen nahebringen, das jeden Mann irgendwann zum Kandidaten für eine Testosteron-Kur machen könnte: die «Wechseljahre des Mannes».
Die Wissenschaftler sind zerstritten. Für den deutschen Hormonspezialisten Bruno Allolio von der Universität Würzburg etwa sind die Argumente alles andere als eindeutig: «Es ist deprimierend, wie leichtfertig aus dünnem Wissen der Sinn einer Therapie abgeleitet wird.»
Vorbild der neuen Theorie: Die Wechseljahre der Frau
Vorbild der neuen Theorie sind die Wechseljahre der Frau, die Phase zwischen 45 und 55. Dann hören die Eierstöcke auf, Östrogene zu produzieren. Etwa jede dritte Frau spürt den Rückgang der Sexualhormone als Wechseljahrsbeschwerden: zum Beispiel Unlust, Müdigkeit, Hitzewallungen. Diese Symptome sind als Krankheit anerkannt, gegen die sich viele Frauen zur Linderung das weibliche Sexualhormon verschreiben lassen. Überdies haben Östrogene schnell einen Ruf als Elixier ewiger Gesundheit erworben: Die Hormone sollen auch Herzkrankheiten, Osteoporose und Alzheimer vorbeugen (was allerdings nicht erwiesen ist, wie der Puls-Tip mehrfach berichtete).
Auch ältere Männer könnten unter einem Mangel an Sexualhormonen leiden - in ihrem Fall eben Testosteron. Manche weisen Symptome auf, die bei ihren Gattinnen als Wechseljahrsbeschwerden gälten. Zudem zeigen Studien, dass der Testosteron-Spiegel bei Männern zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr langsam sinkt. Obwohl die Produktion nie völlig versiegt, bilden Männer im Alter weniger Hormone als noch Mitte 20.
Auf diesen zwei Beobachtungen basiert die Theorie über die männlichen Wechseljahre: Wenn bei einem Mann Beschwerden und niedrige Testosteron-Werte zusammentreffen, ist das eine Krankheit, die in die Hände von Ärzten gehört. So lautet etwa die Botschaft eines Weltkongresses über den alternden Mann, der dieses Jahr in Genf stattfand.
Viele Urologen sähen es schon jetzt am liebsten, wenn jeder Mann ab 40 regelmäßig einen Hormon-Check machen würde. Andere warnen davor, Männern schon jetzt medizinische Lösungen zu suggerieren, die sich als nutzlos oder gar riskant herausstellen könnten.
«Unmöglich ist es nicht, dass manche ältere Männer von Testosteron profitieren könnten», sagt der Basler Hormonspezialist Marius Kränzlin. «Aber bislang ist das nur eine Hypothese.» Er selbst hat bei mehreren älteren Männern einen Therapieversuch mit Testosteron unternommen. Die Erfahrungen sind gemischt: «Manche Patienten fühlen sich besser, andere setzen die Therapie enttäuscht wieder ab.»
Studien, die Wirkungen von Testosteron auf einige Altersbeschwerden untersuchen, «sind zu klein oder zu kurz, um wirklich aussagekräftig zu sein», kritisiert Kränzlin. Im Wesentlichen bestätigen sie die Wirkungen, die Body-Builder das Hormon kaufen lassen: Testosteron ist ein Anabolikum. Auch Männer über 65 legen unter der Wirkung Muskeln zu. Medizinische Bedeutung hat das aber nicht unbedingt. US-Forscher haben bei 108 Männern festgestellt, dass nach drei Jahren Testosteron-Therapie zwar deren Muskelmasse, aber nicht die Kraft zugenommen hatte.
Noch völlig offen ist, welche Bedeutung das Hormon für das Befinden eines Mannes hat. «Wir wissen nicht einmal, wie viel Testosteron für einen älteren Mann normal ist», sagt der Hormonspezialist Christian Meier, Oberarzt am Kantonsspital Basel. Aus Verlegenheit behelfe man sich mit den Werten für junge Männer.
Schwammig sind auch die Schätzungen, wie viele ältere Männer überhaupt einen Testosteron-Mangel haben: Sie variieren zwischen 6 und 50 Prozent der über 60-Jährigen. Meier und sein Team wollen nun die Häufigkeit niedriger Testosteron-Werte und den Zusammenhang mit Gesundheit und Stimmung in einer Studie untersuchen.
Hormonmangel ist nicht an allem schuld
Das ist eine komplexe Aufgabe. «Die dem Hormonmangel zugeschriebenen Beschwerden sind so zahlreich und unspezifisch, dass viele andere Ursachen in Frage kommen», sagt Meier. Tatsächlich gibt es selbst für ältere Männer mit Testosteron-Überschuss genügend Gründe, in eine «Midlife-Crisis» zu geraten. Kraft und Potenz lassen nun einmal mit dem Alter nach; die Rolle in der Familie ändert sich; man stellt fest, dass man seine Lebensziele nicht erreicht hat, im Beruf bedrohen einen die jüngeren Konkurrenten; Alterskrankheiten kündigen sich an - das kann auf die Stimmung drücken.
Es gibt wenige Forschergruppen, die systematisch untersucht haben, ob ältere Männer mit niedrigeren Hormonwerten wirklich weniger fit sind. Eine ist die Gruppe um die Psychologen Annette Degenhardt und Andreas Thiele von der Universität Frankfurt. Bei ihrer Studie an 300 Männern zwischen 35 und 65 kam das Gegenteil dessen heraus, was Testosteron-Gläubige heute annehmen. «Die Männer, die mit sich nicht zufrieden waren, hatten deutlich höhere Spiegel als diejenigen ohne Beschwerden», sagt Degenhardt.
Trotzdem erstaunt es nicht, dass der Glaube an das Hormon zunimmt. Zu perfekt passt Testosteron zum Zeitgeist. US-Studien zeigen, dass männliche Models in den letzten Jahren immer mehr an Muskelmasse zugelegt haben. Mancher Werbespot für Rasierwasser ist eher Reklame für Doping, weil Waschbrettbauch und Bizeps der Models oft nur mit Hilfe von Hormonen zu erreichen sind.
Hinzu kommt, dass die Pharmaindustrie diesen Trend geschickt aufgreift und die Idee der männlichen Wechseljahre kräftig durch Werbeagenturen vermarkten lässt. In den USA zeigt sich der Erfolg: Dort erleben Testosteron-Präparate seit einigen Jahren bereits jährliche Umsatzsteigerungen um 30 Prozent. Und für die, denen Spritzen oder Pflaster zu lästig waren, hat eine US-Firma nun ein Testosteron-Gel entwickelt: Wer glaubt, ihm fehle etwas, kann sich mit Männlichkeit einreiben wie mit Sonnencreme. Für die Schweiz ist die Zulassung bislang noch nicht beantragt.
Vor diesem Hintergrund klingen die Warnungen einiger Experten vor den Risiken wohl wie Besserwisserei: Manche von ihnen halten das Sexualhormon für eine der Ursachen, warum Männer einige Jahre früher als Frauen an Herz-Kreislauf-Krankheiten sterben.
Hinzu kommt Prostatakrebs, der häufigste Krebs älterer Männer. «Es ist nicht ganz klar, welche Rolle Testosteron beim Entstehen von Tumoren in der Vorsteherdrüse spielt», sagt Kränzlin, «aber es fördert eindeutig das Wachstum bereits bestehender Tumoren.» Diese Tumoren wachsen häufig so langsam, dass die meisten Männer sterben, bevor sie etwas von ihrer Geschwulst merken. Das könnte die Testosteron-Therapie ändern: Selbst Verfechter raten, laufend die Prostata zu kontrollieren.
Sorgen um solche langfristigen Nachteile macht sich Andrew Sullivan wohl nicht, wenn er sich alle zwei Wochen das Hormon spritzt. In seinem Fall kann man den Wunsch, die Stimmung aufzubessern, sogar verstehen. Denn es gibt einen Grund, warum seine Einschätzung des Hormons nicht unbedingt als Exempel für alle Männer taugt: Sullivan ist seit Jahren mit dem HI-Virus infiziert.
Klaus Koch