Operiert - bei vollem Bewusstsein
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Gesundheitstipp 10/2000
01.10.2000
Betroffene: «Ich schrie in ein schwarzes Loch»
Sie hören, sie fühlen, manchmal haben sie auch Schmerzen. Nur schreien können die Patienten nicht, die während der Operation aufwachen. Das Erlebnis kann Folgen haben.
«Todesangst», sagt Alex Zbinden. «Das Gefühl, total ausgeliefert zu sein.» Der 48-Jährige erzählt von einer Operation, die er vor vier Jahren buchstäblich erlebt hat.
Wahrscheinlich sei er zu früh aufgewacht, fährt Zbinden f...
Betroffene: «Ich schrie in ein schwarzes Loch»
Sie hören, sie fühlen, manchmal haben sie auch Schmerzen. Nur schreien können die Patienten nicht, die während der Operation aufwachen. Das Erlebnis kann Folgen haben.
«Todesangst», sagt Alex Zbinden. «Das Gefühl, total ausgeliefert zu sein.» Der 48-Jährige erzählt von einer Operation, die er vor vier Jahren buchstäblich erlebt hat.
Wahrscheinlich sei er zu früh aufgewacht, fährt Zbinden fort. «Ich war bei Bewusstsein, doch gleichzeitig noch gelähmt. Deshalb konnte ich nicht atmen. Ich spürte den Beatmungs-Schlauch in meinem Hals. Trotzdem hatte ich das Gefühl, zu ersticken.» Zbinden weiss, wovon er redet. Als Professor für Anästhesie am Inselspital Bern ist er Spezialist auf dem Gebiet.
«Awareness», zu Deutsch «Bewusstsein», lautet der Fachausdruck für Sinneswahrnehmungen während der Narkose.
Das Phänomen kommt zwar selten, aber doch immer mal wieder vor. Gemäss der Fachzeitschrift «British Journal of Anaesthesiology» sind 2 von 10 000 Patientinnen und Patienten unter Vollnarkose davon betroffen. Sie hören, was im Operationssaal gesprochen wird oder spüren den Beatmungsschlauch in ihrem Hals. Die Patienten sind völlig hilflos: Sie können weder schreien noch ein Handzeichen geben, denn die Narkose lähmt alle Muskeln.
Bei Herz- oder Kaiserschnittoperationen ist die «Awareness»-Rate viel höher: Von 100 Patienten kriegen durchschnittlich 3 mit, was im OP vor sich geht. «Bei diesen Operationen ist die Dosierung der Narkosemedikamente noch schwieriger als sonst», sagt Beat Meister, Narkose-Chefarzt an der Berner Privatklinik Beau-Site und Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Anästhesiologie und Reanimation.
Beim Kaiserschnitt könnten sich hohe Dosen von Narkosemedikamenten ungünstig auf das Kind auswirken. Bei Herzoperationen erschweren die starken Veränderungen des künstlichen Kreislaufs und der Temperatur die Dosierung.
Die schrecklichste Vorstellung wird bei jedem 10 000. Patienten wahr: Die, dass die Vollnarkose die Schmerzen nicht ganz ausschaltet.
«Ich schrie in ein schwarzes Loch», erinnerte sich eine betroffene Patientin in der amerikanischen Zeitschrift «Times». Die Frau spürte, wie ihr der Chirurg den Bauch aufschnitt, sie konnte sich aber nicht bemerkbar machen.
«Awareness»-Erlebnisse haben zwar keine körperlichen, dafür jedoch psychische Langzeitfolgen: Das Fachblatt «Anaesthesiology» wertete die Aussagen von 26 Betroffenen aus und stellte fest, dass fast 70 Prozent von ihnen an Nachwirkungen litten. Sie hatten nicht nur Schlafstörungen und Albträume. Manche bekamen auch tagsüber Angstzustände und sogar so genannte «Flashbacks», während derer die Betroffenen das traumatische Ereignis nochmals durchlebten.
Auch Alex Zbinden litt an den Folgen: «In meinen Träumen erlebte ich das Ganze immer wieder neu.» Oftmals brauchen Betroffene psychologische oder sogar psychiatrische Hilfe: «Menschen, die eine "Awareness" erlebt haben, leiden manchmal an ähnlichen Symptomen wie Folteropfer», so Zbinden.
Meistens daure eine «Awareness» aber nur wenige Minuten. Wenn der Anästhesist mit dem Patienten spreche, werde sie von den Betroffenen nicht als unangenehm empfunden.
Grund für die «Awareness» ist immer eine falsche Dosierung der Mittel. Denn eine Narkose beruht auf dem komplexen Zusammenspiel von drei verschiedenen Medikamentenarten. Ein Mittel betäubt den Schmerz. Ein weiteres löscht vorübergehend das Bewusstsein, sodass der Patient nichts hört, nichts fühlt und sich auch an nichts erinnert. Ein drittes Mittel lässt die Muskeln erschlaffen und schaltet damit auch die Atmung aus.
Einfach ist die richtige Dosierung nicht, denn der Anästhesist muss immer zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig abwägen. Je nach Krankheit, Gewicht, Geschlecht und Alter braucht es einen individuellen Mix.
Arzt muss allein beurteilen, ob die Narkose wirkt
In manchen Fällen ist es möglich, auf das Muskelerschlaffungsmittel zu verzichten. «Damit kann sich der Patient jederzeit bemerkbar machen, wenn die Anästhesie ungenügend tief ist», sagt der Narkose-Spezialist Beat Meister.
Doch das geht nicht bei allen Operationen. Deshalb muss der Anästhesist bei Eingriffen mit Muskelerschlaffung allein beurteilen, ob die Narkose auch das Bewusstsein und die Schmerzen des Patienten ausgeschaltet hat. Technische Überwachungsmöglichkeiten gibt es erst seit kurzem.
Seit zwei Jahren ist in der Schweiz der BIS-Monitor erhältlich, ein Gerät, das die Häufigkeit der Gehirnströme misst und so den Wachzustand des Patienten anzeigt. Es wird derzeit in 16 Schweizer Spitälern verwendet. «Damit erreicht man eine hohe, wenn auch nicht hundertprozentige Sicherheit», sagt Meister. Weltweit seien mit dem BIS-Monitor schon mehrere 100 000 Narkosen durchgeführt worden - bisher mit keiner einzigen «Awareness». Dennoch sei das Gerät in Fachkreisen nicht unumstritten, so Meister.
«Der BIS-Monitor ist ein grosser Fortschritt in der Anästhesie», sagt auch Alex Zbinden. «Es stellt sich aber die Kosten-Nutzen-Frage.» Im Inselspital Bern habe man inzwischen 13 Geräte angeschafft. Um alle Operationsplätze damit auszurüsten, bräuchte man aber 50 Stück. Das würde das Spital rund eine halbe Million Franken pro Jahr kosten.
Auch am Universitätsspital Zürich wird das neue Gerät in gewissen Fällen verwendet. «Es ist aber nicht die allumfassende Lösung», sagt Thomas Pasch, Professor für Anästhesiologie. «BIS gibt keine Warnzeichen. Deshalb merkt man nicht, ob der Patient wach werden könnte, sondern nur, ob er bereits wach ist.» Den Grenzbereich zwischen Schlaf und Bewusstsein zu analysieren, sei auch mit dem Gerät schwierig.
Häufig erfahren Narkose-Ärzte aber gar nichts von der «Awareness» ihrer Patienten. «Viele trauen sich nicht, darüber zu reden», sagt Alex Zbinden. «Sie denken, sie spinnen.»
Auch die erwähnte Studie ergab, dass nur 9 der 26 betroffenen Patienten den Narkose-Arzt informierten. 3 davon trafen auf eine ablehnende Haltung. «Dabei ist es gerade im Hinblick auf künftige Operationen notwendig, die Awareness zu verarbeiten», sagt Zbinden. «Darüber reden ist das Wichtigste.»
Lisa Stadler
Vor der Narkose
- Bestehen Sie auf einem ausführlichen Narkose-Vorgespräch mit der Anästhesistin. Reden Sie offen über Ihre Ängste.
- Informieren Sie sie genau über Ihren Alkohol-, Nikotin-, und sonstigen Drogenkonsum. Teilen Sie Ihr alle Medikamente mit, die Sie in den letzten Tagen eingenommen haben - auch solche, die Sie für «harmlos» halten (z.B. pflanzliche wie Johanniskraut oder Ginseng).
- Erkundigen Sie sich, bis wann Sie essen und trinken dürfen.
- Teilen Sie der Narkose-Ärztin später unbedingt mit, falls es zu einer «Awareness» gekommen ist. Es gehört zu ihrer Aufgabe, Sie auch nach der Operation zu besuchen und zu betreuen.
- Wenn Sie nach einer «Awareness» wieder operiert werden müssen: Informieren Sie die Narkose-Ärztin über die früheren Erlebnisse.