Lorenz Matter ist keiner, der rasch zum Arzt geht. Der 39-jährige Akrobat vom Duo «Scacciapensieri» stand auch schon mit 39 Grad Fieber auf der Bühne: «Ich bin fit und kann auf die Zähne beissen.» Doch im vergangenen Frühling merkt er, dass etwas nicht mehr stimmt. Wochenlang ist er total erschöpft, muss jeden Abend schon um neun Uhr ins Bett. Ausserdem sind seine Lymphknoten entzündet.
Lorenz Matter ist HMO-versichert. Das heisst: Er zahlt weniger Krankenkassenprämien und nimmt dafür in Kauf, seinen Arzt nicht frei wählen zu können. Er geht deshalb in die HMO-Gruppenpraxis – in seinem Fall das Swica-Gesundheitszentrum in Zürich-Oerlikon.
Etwa eine Viertelstunde dauert die Konsultation beim Swica-Arzt B. L. Der tippt auf ein Virus als Ursache für die Beschwerden. «Er sagte, ein Bluttest sei nicht sinnvoll», erinnert sich Matter. «Man wüsste dann zwar den Namen des Virus, aber machen könne man nichts.» Der Patient vertraut dem Arzt, die Diagnose leuchtet ihm ein. Erst heute ist ihm klar: Hätte der Arzt damals einen Test gemacht, wäre dem Akrobaten vieles erspart geblieben.
In den Monaten nach dem Arzttermin geht die Müdigkeit nicht weg, die Lymphknoten bleiben geschwollen. Matter vermutet, dass die starke körperliche Belastung der Grund dafür ist: «Wir studierten ein neues Programm ein. Da gingen wir oft an die Grenze.»
«An Krebs hatte ich nie gedacht»
Im Herbst geht nichts mehr: Er muss Auftritte absagen, und auch nach einer Woche Ferien ist er immer noch total erschöpft. Auf Drängen seiner Frau steigt Matter aus der HMO-Versicherung aus und geht zu einem anderen Arzt. Der macht einen Bluttest – und stellt fest: Der Hämoglobinwert ist extrem tief – ein Alarmzeichen.
Nach weiteren Tests wird klar: Matter leidet an Lymphdrüsenkrebs im fortgeschrittenen Stadium. «Die Diagnose war ein Schock», sagt Matter. «An Krebs hatte ich nie gedacht.» Der Krebs hat sich im Lymphsystem seines Körpers bereits stark ausgebreitet und auch das Knochenmark befallen. Laut Matters Krebsspezialistin Heidi Dazzi spricht diese Art Krebs umso besser auf eine Therapie an, je früher sie einsetzt. Doch weil der Krebs schon weit fortgeschritten ist, muss Lorenz Matter während fünf bis sechs Monaten eine extrem starke Chemotherapie machen. Lorenz Matter hat gute Chancen, geheilt zu werden.
Doch die Therapie wird in jedem Fall Folgen haben: Übelkeit, Haarausfall und ein geschwächtes Immunsystem sind noch die harmlosen Auswirkungen. Die starken Medikamente können auch die Nerven schädigen und damit die Koordination stören: «Für mich als Artisten wäre das der Ruin.» Zudem machen sie Patienten vorübergehend oder gar dauerhaft zeugungsunfähig. Im schlimmsten Fall kann die Chemotherapie später sogar Leukämie auslösen.
«Ein halbes Jahr Verzögerung ist bei diesem Krebs nicht gut»
Bis auf Weiteres hat der Künstler alle Auftritte abgesagt – auch die Premiere des neuen Programms. Sie hätte an Ostern im Casinotheater Winterthur steigen sollen. Eine herbe Enttäuschung: «Fast drei Jahre haben wir gekrampft für die neue Show, und jetzt ist nur noch ein Scherbenhaufen übrig.»
Matter ist überzeugt: «Ich habe ein halbes Jahr verloren, weil der HMO-Arzt im Frühling keinen Bluttest gemacht hat.» Krebsärztin Heidi Dazzi kann zwar im Nachhinein nicht beurteilen, wie stark der Krebs in dieser Zeit gewachsen ist. Aber eins ist für sie klar: «Ein halbes Jahr Verzögerung ist bei diesem Krebs nicht gut.»
Laut dem Winterthurer Krebsspezialisten Christian Marti ist es «Ermessenssache», ob man bei geschwollenen Lymphknoten gleich einen Bluttest machen soll. «Entscheidend ist aber, einen solchen Patienten nach einigen Wochen nochmals zu kontrollieren. Nur wenn er sich dann besser fühlt und die Lymphknoten nicht mehr geschwollen sind, ist für mich der Fall erledigt.»
Heidi Dazzi hätte bei Lorenz Matter einen Bluttest gemacht, sagt sie. «Und vor allem hätte ich ihn einen Monat später nochmals sehen wollen.» Das Swica-Zentrum bot Lorenz Matter dagegen nicht zur Nachkontrolle auf.
Die Swica schreibt zum Fall, bei der Untersuchung im Gesundheitszentrum habe der Patient «Beschwerdefreiheit angegeben», nur ein Lymphknoten sei noch leicht vergrössert gewesen. Deshalb habe sich «zum damaligen Zeitpunkt die Frage nach weiterführenden Abklärungen nicht gestellt.»
Zur fehlenden Nachkontrolle hält die Swica fest, der Arzt L. habe Lorenz Matter «darauf hingewiesen, dass er sich wieder beim Arzt vorstellen solle, falls die Beschwerden wieder auftreten sollten.» In einem Brief an Matter bedauert Arzt L. zwar den «schweren Schlag» der Krebsdiagnose. In der Sache weist er jedoch jede Schuld von sich.
Swica wehrt sich gegen Vorwürfe von HMO-Patienten
Die Swica schreibt, dass L. keinen Bluttest gemacht habe, sei jedenfalls unabhängig davon, dass Matter HMO-versichert gewesen sei: «In unseren Gesundheitszentren gibt es keine Unterschiede zwischen unterschiedlich versicherten Patienten.»
Matter bezweifelt dies: «Der Bluttest hätte 300 Franken gekostet. L. wollte dieses Geld sparen, weil ich HMO-versichert war.» Denn im HMO-Modell bezahlt die Krankenkasse dem Arzt nicht die effektiven Kosten, sondern eine Pauschale pro Patient. So hat der Arzt ein Interesse daran, die Kosten tief zu halten. Ob dies zu einer schlechteren Medizin führt, ist umstritten. Einen Hinweis gibt eine Umfrage der Uni Bern: 32 700 Patienten wurden befragt, wie zufrieden sie mit ihrem Arzt seien. Darunter waren auch HMO-Patienten. Und diese gaben ihrem Arzt in jedem einzelnen Punkt der Umfrage schlechtere Noten als Patienten, die in eine Einzelpraxis gehen.
Der Zürcher Arzt Predrag Lohrer leitete vier Jahre lang eine HMO-Praxis – das Swica-Gesundheitszentrum Zürich-Oerlikon. Allerdings bevor Lorenz Matter dort behandelt wurde. Auch ein HMO-Zentrum könne eine gute medizinische Qualität bieten, sagt Lohrer – sofern sich ein Arzt engagiere. Doch er berichtet auch, dass HMO-Praxen grundsätzlich einem hohen Kostendruck ausgesetzt sind: «Bei fast jedem Entscheid spielt das Geld eine Rolle.» Zudem arbeiteten dort oft jüngere Ärzte, die wenig praktische Erfahrung hätten. «Ein unerfahrener Arzt lässt sich leichter verunsichern. Da kann es schon sein, dass er aus Kostengründen aufs Abklären verzichtet.»
«Unerträglicher» Kostendruck in der HMO-Praxis
Oft lagen die Ärzte mit den Swica-Managern im Clinch, erinnert sich Lohrer: «Die Praxis hatte ein viel zu grosses Einzugsgebiet. Der Anfahrtsweg einiger Patienten dauerte eine Dreiviertelstunde und mehr.» Die Ärzte schlugen der Swica deshalb vor, ein weiteres Zentrum in Zürich-West zu errichten. Doch die Swica wollte davon nichts hören – aus Kostengründen. 2001 kam es zum Eklat: Lohrer kündigte, zusammen mit zwei weiteren Ärzten und zwei Physiotherapeuten.
Schon fünf Jahre zuvor hatten drei Ärzte, die das Zentrum aufgebaut hatten, das Handtuch geworfen. Rolf Sturzenegger war einer von ihnen. «Das Management hat uns immer mehr dreingeredet», sagt er. «Wir mussten nach finanziellen Kriterien entscheiden statt nach medizinischen. Das war unerträglich.» Zum Beispiel hätten die Krankenkassen-Manager den Ärzten vorgeschrieben, wie viel Zeit sie pro Patient aufwenden dürften. Das wollte Sturzenegger nicht akzeptieren. Heute ist er gegen das HMO-System: «Es drängt die Ärzte dazu, auf Kosten der Patienten zu sparen.»
Die Swica verneint dies: «Die Behandlung wird stets nach medizinischen Kriterien entschieden.» Sie räumt jedoch ein, dass die Ärzte «in der Regel eine Viertelstunde, bei Bedarf auch eine halbe Stunde zur Verfügung» haben.
Laut dem Gesundheitsökonomen Willy Oggier gibt es zu wenig verlässliche Daten, um die Qualität der HMO-Praxen in der Schweiz beurteilen zu können. Die Patientenorganisationen verzeichnen jedenfalls nicht mehr Beschwerden über HMO-Ärzte als über andere Ärzte.
Margrit Kessler von SPO Patientenschutz sieht allerdings Unterschiede zwischen den HMO-Praxen: «Einige bemühen sich ernsthaft um eine gute Medizin.» Man erkenne sie daran, dass sie von einer unabhängigen Stelle zertifiziert seien, so Kessler. Eine solche Stelle ist die Stiftung Equam. Deren Zertifikat bringt den Patienten mehrere Vorteile. Zum Beispiel einen Ombudsarzt, an den sich unzufriedene HMO-Patienten wenden können.
Swica-Gesundheitszentren sind nicht zertifiziert
Ein Equam-Zertifikat zwingt die HMO-Ärzte auch zu regelmässigem Gedankenaustausch. Felix Huber, Leiter der Equam-zertifizierten Medix-Gruppenpraxis in Zürich: «Wir treffen uns täglich eine halbe Stunde, um über unsere Patienten zu sprechen. Erfahrene Ärzte können so ihre jüngeren Kollegen beraten.»
Die Swica-Gesundheitszentren sind im Gegensatz zu den meisten HMO-Gruppenpraxen nicht zertifiziert. Man verfüge über ein eigenes Qualitätsmanagement, schreibt die Swica. An einer wöchentlichen Ärztesitzung, die anderthalb Stunden dauere, bespreche man Fälle. Zudem fänden regelmässige Qualitätszirkel statt.
HMO-Versicherung: Darauf müssen Sie achten
Wer HMO-versichert ist, profitiert von einer günstigen Krankenkassenprämie. Dafür kann man seinen Arzt nicht frei wählen. Die Kasse schreibt eine oder mehrere HMO-Praxen vor, in die man gehen muss. Deshalb lohnt es sich, schon vor dem Wechsel ins HMO-Modell bei der Krankenkasse genau zu prüfen:
- Zertifikat der Praxen. Eine zertifizierte Praxis muss Qualitätsstandards einhalten.
Weitere Infos zu HMO und Krankenkasse: K-Tipp-Ratgeber «So sind Sie richtig versichert», 4. Auflage, 304 Seiten. Zu bestellen unter www.ktipp.ch/buchshop.