Am ersten Tag nach den Sommerferien erfuhr der 31-jährige William Oaña, dass er seinen Job als Flugzeugreiniger bald los ist. Neun Jahre lang hat der gebürtige Filipino am Flughafen Zürich-Kloten Flugzeuge geputzt. Seit er die Kündigung erhalten hat, kann er nicht mehr schlafen. Sein Arzt hat ihn deshalb krankgeschrieben. Weil auch seine Frau wegen der Krise ihr Arbeitspensum reduzieren musste, plagen William Oaña, der Vater von zwei Teenagern ist, jetzt Existenzängste.
Auch andere Mitarbeiter von SR Technics haben in letzter Zeit den blauen Brief erhalten. Gemäss Medienberichten will SR Technics 200 bis 300 Stellen abbauen. Wegen der Wirtschaftskrise müssen weniger Flugzeuge gewartet und gereinigt werden. So wie William Oaña geht es immer mehr Menschen in der Schweiz: In den letzten Monaten hat die Zahl der Arbeitslosen in der Schweiz um über 50’000 zugenommen. Wirtschaftsfachleute warnen, dass im Herbst eine grössere Entlassungswelle bevorsteht. Die Nationalbank rechnet damit, dass die Arbeitslosenquote im nächsten Jahr von gegenwärtig 3,8 Prozent auf 6 Prozent zunehmen könnte.
Je mehr Arbeitslose, umso mehr Selbstmorde
Der Stellenverlust ist für die Betroffenen nicht nur unangenehm – er schadet auch der Gesundheit. Englische Forscher zeigen in einer kürzlich veröffentlichten Studie, dass sich mehr Menschen das Leben nehmen, wenn die Zahl der Arbeitslosen steigt, und dass es gleichzeitig auch mehr Alkoholprobleme und mehr Herzinfarkte gibt. Das Fazit der englischen Forscher: «Obwohl in erster Linie die Banken verantwortlich für die Wirtschaftskrise sind, muss jetzt die gesamte Gesellschaft den Preis für die finanziellen Abenteuer der Banker zahlen.»
Der Arzt Felix Huber, Leiter der Zürcher Medix-Gruppenpraxis, bestätigt: «Arbeitslosigkeit führt bei vielen Betroffenen zu psychischen Problemen. Sie leiden unter Depressionen, Niedergeschlagenheit oder Selbstwertzweifeln.» Damit verbunden seien oft auch körperliche Beschwerden: «Chronische Schmerzen sind viel schwerer erträglich, wenn eine seelische Last dazukommt.» Die Medienbranche gehört zu den Wirtschaftszweigen, die am stärksten von der Krise betroffen sind. Im Mai entliess der Zürcher Tamedia-Konzern auf einen Schlag mehr als 50 Redaktorinnen und Redaktoren des «Tages-Anzeiger». Einer von ihnen ist Kulturredaktor Peter Müller. Drei Jahre vor dem regulären Pensionsalter erhielt er den blauen Brief.
«Stillose Kündigung» nach 30 Jahren Betriebstreue
Seit der Kündigung geht es Peter Müller schlecht. «Ich habe Schlafstörungen und Magenschmerzen», sagt er. Die Beschwerden waren so stark, dass der Journalist zwei Wochen lang nicht arbeiten konnte. Die Kündigung empfindet er als stillos, weil sie nicht von der Chefredaktion ausgesprochen wurde: «Obwohl ich seit fast dreissig Jahren für den Tages-Anzeiger arbeite, wurde ich in zehn Minuten von einer Personalmanagerin auf die Strasse gestellt.» Er hatte Zukunftsangst, weil er nicht wusste, wie er das Studium seiner jüngeren Tochter weiterhin finanzieren kann: «Mit 62 Jahren finde ich keinen neuen Job mehr.» Erst nach massiven Protesten des Personals und der Leserschaft habe Tamedia den Entlassenen einen Sozialplan angeboten.
Tamedia schreibt dem Gesundheitstipp in einer Stellungnahme: «Es ist uns bewusst, dass eine Kündigung für die betroffene Person ein gravierender Einschnitt und auch gesundheitlich belastend sein kann.» Mitarbeiter, die unter gesundheitlichen Problemen leiden, könnten sich bei der Sozialberatung der Tamedia gratis beraten lassen. Den Chefredaktoren sei es nicht möglich gewesen, die Kündigungen persönlich auszusprechen.
In anderen Betrieben erging es Angestellten noch schlimmer. Die 55-jährige Christine Baumann arbeitete bis vor einem Jahr als Kassiererin im Coop-Restaurant in Grenchen SO. Dann wurde ihr plötzlich gekündigt – zusammen mit mehreren anderen Kassiererinnen. Coop warf ihnen vor, sie hätten bei kleineren Portionen zu tiefe Preise eingetippt. Dies, obwohl die Kassiererinnen betonten, sie hätten immer nach den Anweisungen ihrer Vorgesetzten gehandelt.
Die Gewerkschaft Unia setzte sich für die Frauen ein. Dennoch wollte Coop die entlassenen Frauen nicht weiter beschäftigen. Ein schwerer Schlag für Christine Baumann: «Ich fiel in eine Depression. Seither kämpfe ich, um daraus heraus zu kommen.» Kurz nach dem Stellenverlust starb auch noch ihre Mutter. «Ich wusste nicht mehr, für was ich da bin.» In ihrer Not wollte sich Christine Baumann das Leben nehmen. Nur der Gedanke an ihre fünf Kinder hielt sie davon ab. Sie entschloss sich zu einer Psychotherapie. Doch sie ist immer noch innerlich verletzt: «Weil die Kündigung ungerecht war, habe ich das Vertrauen in meine Mitmenschen verloren», sagt Christine Baumann. «Nichts ist mehr so wie vorher. Früher war ich nie krank. Doch jetzt habe ich oft Erkältungen und Magendarmgrippe.»
Zurzeit versucht sie, mit kleinen Schritten in die Arbeitswelt zurückzufinden: Sie arbeitet stundenweise in einer Kantine. Und sie ist froh, dass sie bald von Grenchen wegziehen kann – dem Ort, wo sie eine so grosse Enttäuschung erlebte. Eine Coop-Sprecherin sagt: «Coop weiss, dass eine Kündigung gesundheitliche Probleme auslösen kann. Deshalb hat Coop die erwähnten Fälle sehr sorgfältig untersucht, bevor die Kündigungen ausgesprochen wurden.»
Hans-Georg Heimann, Geschäftsleiter der Kontaktstelle für Arbeitslose in Basel, sagt: «Der Verlust des Arbeitsplatzes isoliert die Betroffenen und belastet sie seelisch.» Der Grund: «Viele Menschen definieren sich in erster Linie über die Arbeit und den Verdienst. Wenn sie ihren Job verlieren, leidet das Gefühl der Zugehörigkeit zur Gesellschaft.» Krank machen laut Hans-Georg Heimann auch die ungewissen Zukunftsaussichten – und Vorurteile gegen Arbeitslose. Denn immer wieder müssen sie sich anhören, sie seien selber schuld an ihrer Arbeitslosigkeit – auch wenn sie den Job mitten in einer Wirtschaftskrise verlieren.
Doch Bibinka Christensen, Beraterin der kirchlichen Fachstelle für Arbeitslosigkeit in Winterthur, stellt klar: «Arbeitslose sind nicht selber schuld. Viele Entlassungen sind strukturell begründet – weil bestimmte Wirtschaftszweige besonders krisenanfällig sind.» Zudem hätten nicht alle Arbeitnehmer die gleichen Chancen, um in einer Wirtschaftskrise ihre Stelle zu behalten: «Gut ausgebildete Arbeitnehmer haben einen Vorteil gegenüber weniger gut ausgebildeten Kollegen.» Es sei wichtig, dass sich Arbeitslose bewusst werden, dass sie an ihrem Schicksal nicht selber schuld sind: «Es ist für die Gesundheit schlecht, wenn man in der Schuldfrage gefangen ist», sagt Christensen.
Tipps: So bleiben Sie trotz Stellenverlust gesund
- Gestalten Sie Ihre Tages- und Wochenstruktur aktiv. Setzen Sie sich jeden Tag kleine Ziele, die Ihnen zeigen, dass Sie handlungsfähig sind.
- Bauen Sie in Ihren Tag auch Zeiten der Erholung ein. Unternehmen Sie etwas Schönes, das Sie aufstellt.
- Bewegen Sie sich regelmässig. Körperliche Bewegung wirkt depressiven Verstimmungen entgegen.
- Pflegen Sie soziale Kontakte.
- Suchen Sie eine ehrenamtliche Arbeit.
- Nehmen Sie professionelle Hilfe in Anspruch: Reden Sie mit Ihrem Hausarzt oder mit einem Psychologen.
- Gehen Sie mit Schlaf- und Beruhigungsmitteln vorsichtig um.
Beratung und Informationen
- Pro Mente Sana, Beratungstelefon bei psychischen Problemen, 0848 800 858 (Mo, Di, Do 9–12 Uhr, Do auch 14–17 Uhr, Normaltarif)
- In verschiedenen Städten gibt es Beratungsstellen für Arbeitslose. Adressen finden Sie unter hier.
- Die Kontaktstelle für Arbeitslose in Basel veranstaltet Gesundheitstage für Arbeitslose. Infos hier.