Basil Lussi (Name geändert) meldete sich vor wenigen Monaten auf eine Anzeige im Internet-Marktplatz der Universität Basel: Das Unispital suchte Testpersonen für eine Studie zu Fentanyl, einem sehr starken Schmerzmittel, das dem Opium ähnelt und beruhigt. Ärzte verwenden es auch als Narkosemittel. Für die Studie war der 25-Jährige an zwei Tagen während sieben Stunden im Spital. Über Drähte bekam er schmerzhafte Stromstösse, während ihm die Ärzte eine höhere und eine niedrigere Dosis des Medikaments verabreichten. Einmal machten ihn die Mittel so schläfrig, dass er das Bewusstsein verlor.
Teilnehmer erhalten bis zu 3000 Franken
Das hat Lussi gut weggesteckt – er hatte gewusst, worauf er sich einliess. Er ist denn auch zufrieden – und um 1000 Franken reicher. Der Fentanyl-Job war nicht die erste Studienteilnahme für Lussi. Er hat in den letzten zwei Jahren schon viermal an medizinischen Studien mitgemacht. «Das Geld war eine starke Motivation», sagt er. 750 bis 3000 Franken erhalten gesunde Teilnehmer in der Regel als Entschädigung – je nach Aufwand, den sie haben.
Der Nebenerwerb ist allerdings alles andere als ungefährlich, wie das Beispiel Fentanyl zeigt: Verlangsamter Herzschlag und verkrampfte Muskeln sind bekannte Nebenwirkungen des Medikaments. Ausserdem kann das Mittel Übelkeit, Erbrechen und Angstzustände auslösen.
In der Schweiz nehmen jährlich Hunderte von Personen an Medikamentenstudien teil. Sowohl Gesunde wie Basil Lussi als auch Kranke. Das ist ein Risiko: Allein von 2012 bis 2014 sind fünf Testpersonen während Medikamentenstudien gestorben, wie die Schweizer Arzneimittelbehörde Swissmedic bestätigt. Alle fünf hatten allerdings Krebs und waren schwer krank.
Krebskranker: Lähmung nach acht Tagen
Neben den Todesfällen registrierte Swissmedic im gleichen Zeitraum 246 sogenannte «unerwartete Reaktionen».
Ein besonders tragischer Fall war jener des krebskranken Roberto A. Er nahm 2012 am Unispital Zürich an einer Studie für ein Hautkrebsmedikament von Novartis teil. Die Forscher wollten herausfinden, wie hoch sie das Medikament dosieren können, ohne dass der Patient Schaden nimmt. Roberto A. bekam die Höchstdosis. Bereits nach dem ersten Tag ging es ihm miserabel: Er erbrach in einem fort, hatte Kopf- und Muskelschmerzen und konnte nicht mehr schlafen. Trotzdem nahm er das Medikament einige Tage weiter, bevor er es freiwillig absetzte. Zu spät: Am achten Studientag war eine Gesichtshälfte dauerhaft gelähmt.
Für Roberto A. war klar, dass dies eine Nebenwirkung des Medikaments war. Nicht so für den Studienleiter: Die Lähmung habe mit der Studie nichts zu tun, beschied er dem Patienten. Wo kein Beweis, da keine Entschädigung. Roberto A. sollte den Zusammenhang von Studie und Gesichtslähmung nachweisen – so will es das Gesetz. Der Schwerkranke musste sich eine Anwältin nehmen, um für sein Recht zu kämpfen. Er konnte weder kauen noch schlucken und musste sich zum Schlafen die Augenlider zukleben lassen. Auch an Durchschlafen war nicht mehr zu denken und er nahm 10 Kilo ab. Im September 2014 starb er.
Der Fall von Roberto A. zeigt ein Risiko, dem alle Studienteilnehmer ausgesetzt sind: Werden sie dadurch bleibend krank und verlangen Schadenersatz, müssen sie den Zusammenhang beweisen. So will es das Gesetz.
Eigentlich sollte das neue Humanforschungsgesetz von 2011 die Testpersonen besser schützen. Es hält fest, dass die Organisatoren für Schäden haften, die im Zusammenhang mit der Studie entstehen. Die Verordnung zum Gesetz durchlöchert diesen vermeintlichen Schutz für die Studienteilnehmer aber wieder. Darin sind sechs Ausnahmen aufgelistet, bei denen die Haftpflicht der Studienorganisatoren bei klinischen Versuchen ausgehebelt wird. Unter anderem in diesen Fällen:
- Der Arzt setzt ein zugelassenes Medikament so ein, wie es die Fachinformation vorsieht.
- Der Arzt behandelt die Testperson so, wie dies nach internationalen Leitlinien üblich ist.
- Ein vergleichbarer Schaden hätte auch passieren können, wenn die Testperson eine übliche Therapie gemacht hätte.
- Die Testperson leidet an einer unmittelbar lebensbedrohlichen Krankheit, für die es keine Standardtherapie gibt.
Margrit Kessler von der Stiftung SPO Patientenschutz ist ernüchtert: «Mit diesen Ausnahmen hat man die Patientenrechte ausgehöhlt.»
Geschädigte Studienteilnehmer können zwar auch in diesen Ausnahmefällen gegen den Arzt klagen, der die Studie durchführt oder gegen das Spital, in dem er angestellt ist. Christoph Zenger, Professor für öffentliches Gesundheitsrecht an der Uni Bern, sagt: «In diesem Fall muss ein Betroffener nicht nur nachweisen, dass sein Schaden mit der Studie zusammenhängt. Er muss auch beweisen, dass der Arzt einen Fehler gemacht hat oder dass dieser den Teilnehmer nicht genügend über die Risiken aufgeklärt hat.» Es sei aber sehr schwierig, einen Behandlungsfehler zu beweisen, und nahezu unmöglich, den Arzt wegen eines Aufklärungsfehlers zu behaften.
«Die neuen Regeln stellen die Studienteilnehmer schlechter als früher, als es noch nicht so viele Ausnahmen gab», sagt Zenger.
Nebst der Haftpflichtfrage sehen Experten noch ein weiteres Risiko für Studienteilnehmer: Es gibt kein gesamtschweizerisches Register für gesunde Studienteilnehmer. «Das ist unverständlich», sagt Patientenschützerin Margrit Kessler. Es verlocke dazu, kurz nacheinander oder parallel an diversen Studien verschiedener Organisatoren teilzunehmen, um sich ein Auskommen zu verdienen. Dies kann für den Teilnehmer sehr gefährlich sein und sei auch nicht im Sinn der Pharmaindustrie, weil es die Resultate verfälsche.
Ein Register hat wenig Unterstützung
Von einer Verschärfung der Regeln in der Schweiz wollen allerdings weder die Forscher an den Spitälern noch die Behörden etwas wissen.
Obwohl Patienten und Organisatoren profitieren könnten, hält die Swiss Clinical Trial Organisation ein Register für Studienteilnehmer für unnötig. Direktorin Annette Magnin sagt, dass sich die Dachorganisation der klinischen Forschung in der Schweiz momentan nicht für ein Register engagiere. Es gebe nicht mehr viele Firmen in der Schweiz, die Studien durchführten, bei denen ein Medikament zum ersten Mal an Menschen getestet werde.