Wenn sich Erich Osterwalder ins Bett legt, beginnt es: Beide Beine schmerzen von den Knöcheln über das Schienbein bis zum Knie. «Es ist ein wahnsinniges Stechen», sagt der 84-Jährige aus Wengi bei Büren BE. Im Lauf des Tages wird es erträglicher – vor allem wenn er sich bewegt. Deshalb ist Erich Osterwalder jeden Tag zu Fuss unterwegs und macht Touren mit seinem E-Bike: «Das tut mir gut.» Viele Leute haben solche Beschwerden, vor allem im Alter: Bei den über 60-Jährigen sind es 8 von 100.
Bei ihnen sind die Nerven in den Füssen, Beinen oder Händen geschädigt. Das führt zu Kribbeln, Gefühlsstörungen und Schmerzen. Ärzte sprechen von Polyneuropathie. Gefährdet sind vor allem Diabetespatienten und Alkoholkranke. Fast bei jedem Dritten findet der Arzt keine Ursache für die Nervenkrankheit – so auch bei Erich Osterwalder.
Medikamente wirken nur mässig und haben
Nebenwirkungen Ärzte verschreiben bei Polyneuropathie meist Medikamente wie das Epilepsiemittel Pregabalin oder Pillen gegen Depressionen. Mit mässigem Erfolg: Epilepsiemittel etwa verringern nur bei 4 von 10 Patienten die Schmerzen um die Hälfte. Das berichtete die Fachzeitschrift «Arznei-Telegramm». Pregabalin führt ausserdem zu Schwindel sowie Benommenheit und kann abhängig machen (Gesundheitstipp 4/2024). Auch Pillen gegen Depressionen haben teilweise starke Nebenwirkungen und wirken nicht besser.
Schmerzexperte Ralf Baron von der Universität Kiel (D) sagt im Fachblatt «Der Internist»: «Mit Medikamenten lässt sich in der Regel keine Schmerzfreiheit erzielen.» Neben Medikamenten gibt es weitere Therapien. Oft müssen Patienten mehrere ausprobieren oder kombinieren – je nach Beschwerden und Ursache. Gegen die Schmerzen helfen Pflaster und Cremes mit dem ChiliWirkstoff Capsaicin. Er überreizt zunächst die Nerven, hemmt aber bei längerem Anwenden die Empfindung.
Pflaster und Salben mit dem Wirkstoff Lidocain betäuben die betroffene Stelle. Sie wirken im Gegensatz zu Capsaicin nur kurzfristig. Thomas Hundsberger, Leitender Arzt der Klinik für Neurologie am Kantonsspital St.Gallen, empfiehlt solche Präparate, wenn Patienten Medikamente nicht vertragen. «Durch das Auftragen der Cremes tun sich Patienten zudem selber etwas Gutes und kümmern sich um betroffene Körperstellen», so Hundsberger. Daher empfehlen Fachleute Massagen. Ebenfalls hilfreich sind Therapien mit Kälte und Wärme.
Der Arzt Rainer Brenke aus Berlin (D) ist auf solche Methoden spezialisiert. Bei Polyneuropathie empfiehlt er Wassertreten nach Kneipp oder kalte Unterschenkelgüsse: «Sie verbessern die Durchblutung.» Auch Physiotherapeut Jan Peters aus Wil SG empfiehlt Kälte und Wärme: «Patienten merken beim Ausprobieren selbst, was ihnen gut tut.» Es gebe Hinweise, dass eine Kältetherapie Patienten mit Diabetes hilft. Oft haben Betroffene Probleme beim Gehen, weil ihnen das Gefühl in den Füssen fehlt. Fachleute empfehlen deshalb Physiotherapie.
Dabei trainieren Betroffene Gleichgewicht, Koordination und Wahrnehmung. Auch Krafttraining ist laut Jan Peters wichtig: «Es sorgt dafür, dass die Nerven Befehle besser weiterleiten.» Eine Übersichtsstudie der Universität Basel kam vor rund zwei Jahren zum Schluss, dass vor allem ein Training von Gleichgewicht, Koordination und Ausdauer die Beschwerden lindert.
Elektrostimulation ist teuer, für ihren Nutzen gibt es keine Belege
Unklar ist, wie gut die elektrische Stimulation der Nerven wirkt – etwa mit Geräten für TENS oder Hochtontherapie. Für deren Wirksamkeit gibt es noch kaum gute Studien. Zudem sind die Geräte für Hochtontherapie mit rund 2500 Franken sehr teuer. TENS-Geräte gibt es schon für 50 bis 100 Franken. Der St.Galler Arzt Thomas Hundsberger sagt: «Bei Schmerzen eignet sich die TENS-Stimulation allenfalls als Ergänzung.» Ist die Ursache für die Nervenschmerzen bekannt, müsse man auch diese behandeln.
Bei Diabetes zum Beispiel sollte man die Blutzuckerwerte gut einstellen. Sind Medikamente nötig, empfiehlt Thomas Hundsberger, diese nur langsam zu steigern: «So sind sie häufig besser verträglich.» Auch Erich Osterwalder benötigt Schmerzmittel. Was ihm zusätzlich hilft, ist das Tragen enger Socken im Bett. Am Morgen reibt er zudem ein Mittel aus Pflanzen wie Arnika, Kamille, Lavendel und Rosmarin ein. Hersteller IVF Hartmann sagt, sein Pflaster Isola Capsicum verursache nur selten Nebenwirkungen.
Eli Lilly verweist auf die Packungsbeilage von Cymbalta. Laut IBSA ist das Neurodol-Pflaster mit Lidocain gut verträglich. Es lindere Nervenschmerzen, ohne die Haut zu betäuben. GBO-Medizintechnik schreibt, dass man die Hochtontherapie nach Absprache mit dem Arzt auch bei einem Herzschrittmacher einsetzen könne. Im Kaufpreis sei eine telefonische Beratung enthalten. Zudem verweist die Firma auf eine Reihe von kleineren Studien.