Jeden Morgen steht Alice Meyer mit Schaumfestiger und Kamm vor dem Spiegel. Sie versucht, ihr Haar so zu legen, dass man die kahle Stelle am Hinterkopf nicht sieht. «Das belastet mich sehr», sagt die 79-Jährige. Seit rund fünf Jahren lebt sie mit dem Problem. «Von vorne sieht man die lichte Stelle nicht. Aber wenn ich auf der Rolltreppe stehe und jemand ist hinter mir, dann ist es mir sehr unangenehm. Im Café setze ich mich immer an einen Platz an der Wand.»
Für viele Frauen ist volles Haar ein Zeichen für Schönheit und Gesundheit. Umso belastender ist es, wenn die Haare ausfallen. Günther Hofbauer, leitender Arzt an der Dermatologischen Klinik am Universitätsspital Zürich, sagt: «Eine Frau, die Haare verliert, fühlt sich weniger weiblich – und damit weniger wert.»
Test: Von 20 Shampoos wirkte keines
Hersteller von Shampoos und Pflegeprodukten schlagen daraus Profit. Aktuell wirbt Rausch mit einem Ginseng-Coffein-Shampoo und verspricht «bis zu 28 % mehr Haarwachstum». Eine Studie an einem «renommierten Haarforschungsinstitut» belege die Wirkung, heisst es auf Werbeprospekten.
Angaben zum Testverfahren oder zur Zahl der Studienteilnehmer macht Rausch nicht. Auf Anfrage des Gesundheitstipp schreibt der Shampoo-Hersteller, er wolle die Studie «aus Geheimhaltungsgründen» nicht offenlegen. Dass die Studie kaum aussagekräftig ist, zeigt ein Test der Zeitschrift «Öko-Test» (Ausgabe 5/2016). Das deutsche Magazin liess 20 Shampoos gegen Haarausfall untersuchen – darunter auch das Ginseng-Coffein-Shampoo von Rausch und weitere Produkte, die es im Schweizer Handel gibt, wie Alpecin oder Plantur von Dr. Kurt Wolff, Elvital von L’Oréal, Syoss von Schwarzkopf und Head & Shoulders von Procter & Gamble. Das vernichtende Resultat: Keines der 20 getesteten Shampoos wirkte bei Haarausfall.
Für Hautarzt Günther Hofbauer ist dieses Ergebnis keine Überraschung: «Solche Produkte sind ihr Geld nicht wert. Bei den Haarwuchsmitteln herrscht regelrechter Wildwuchs. Belege, dass diese Produkte helfen, gibt es nicht.»
Das musste auch Alice Meyer lernen. Seit einigen Jahren versucht sie, ihr Haarwachstum mit natürlichen Mitteln anzuregen. «Ich habe Hirsekapseln geschluckt, nehme Keratin-Tabletten und will jetzt noch einen Versuch mit Brennnessel-Sud starten.» Die Mühe lohnt sich kaum. Der Winterthurer Heilpflanzenspezialist Martin Koradi sagt: «Es ist vollkommen ungeklärt, wie Brennnessel gegen Haarausfall wirken soll. Es gibt dazu weder plausible Argumente noch bestätigende Studien.»
Auch sei nicht belegt, dass Hirse wirke. «Hirse ist zwar ein gesundes Nahrungsmittel mit einem hohen Gehalt an Mineralstoffen. Dass es gegen Haarausfall wirkt, ist aber eine sehr gewagte Behauptung.»
Ganz hoffnungslos ist der Kampf gegen den Haarausfall aber nicht. Es gibt Fälle, die behandelbar sind. Wer über einen längeren Zeitraum täglich mehr als 100 Haare verliert, sollte sich von einem Arzt untersuchen lassen und die Ursache abklären.
Erblich bedingter Haar-ausfall kommt häufig vor
Am häufigsten ist der erblich bedingte Haarausfall. Frauen sind oft nach der Menopause damit konfrontiert. Der Experte Hofbauer sagt: «40 Prozent der 50-jährigen Frauen leiden darunter. Bei den 80-Jährigen sind es mehr als die Hälfte.»
Die Haare fallen an der Schädeldecke beim Scheitel aus. Es gibt für Frauen ein einziges Mittel, das nachweislich dagegen hilft: Minoxidil. Man trägt die Lösung ein- bis zweimal täglich auf die kahle Stelle auf. Erste Erfolge zeigen sich nach rund drei Monaten.
Alice Meyer hat Minoxidil ausprobiert, jedoch wieder abgesetzt. Zwar wuchsen die Haare – aber an der falschen Stelle. «Ich bekam an den Schläfen einen Flaum und auch am Mund wuchsen ein paar Härchen.»
Minoxidil: «Eine Alternative gibt es nicht»
Laut Günther Hofbauer sind diese Nebenwirkungen bekannt. Was sie auslöse, sei aber unklar: «Patientinnen schwören zwar Stein und Bein, dass sie das Mittel nur auf die kahle Stelle aufgetragen haben. Dennoch kann es sein, dass sie es im Schlaf über das Kopfkissen im Gesicht verteilen.»
Eine andere Erklärung sei, dass der Wirkstoff über den Blutkreislauf ins Gesicht gelange. Weiter könne Minoxidil Hautreizungen hervorrufen und in seltenen Fällen Allergien auslösen. Trotzdem sagt der Hautarzt: «Eine Alternative gibt es nicht.»
Minoxidil kann auch bei diffusem Haarausfall helfen. Bei dieser Form fallen die Haare über den ganzen Kopf verteilt aus. Die Ursachen sind vielfältig und altersunabhängig.
Der diffuse Haarausfall kann bei Eisenmangel, Schilddrüsenunterfunktion oder nach schweren Krankheiten auftreten. Weiter kommt es regelmässig vor, dass Frauen drei bis vier Monate nach einer Entbindung Haare verlieren, weil sich der Hormonspiegel einschneidend verändert. Daneben können auch psychische Probleme ein Grund sein. «Beispielsweise Momente grosser Trauer, der Verlust eines Partners oder auch belastende Erlebnisse bei der Arbeit», sagt Hofbauer.
Die gute Nachricht: Der diffuse Haarausfall ist vorübergehend. Er dauert ein halbes bis ein ganzes Jahr. Dann wachsen die Haare in den meisten Fällen wieder.
Selten ist der kreisrunde Haarausfall. Die Haare fallen dabei an einer oder mehreren Stellen fleckenförmig aus. Nach derzeitigem Stand der Forschung ist eine Autoimmunerkrankung dafür verantwortlich. Eine Therapie mit Kortison kann helfen.
«Vorsorglich Eisen nehmen bringt nichts»
Der Hautarzt rät in jedem Fall, sich von einer Fachperson untersuchen zu lassen: «Ist der Haarausfall die Folge eines Eisenmangels, kann es helfen, den Eisenspeicher aufzufüllen.» Bei einer Schilddrüsenunterfunktion könnten Hormone helfen.
Es bringe aber nichts, vorsorglich Eisen oder Hormone zu nehmen. «Es gibt überhaupt kein Mittel, das vor Haarausfall schützt», erklärt Hofbauer. «Hersteller, die so etwas versprechen, sind in der Regel Scharlatane.»