Die französische Buchautorin und Biochemikerin Jessie Inchauspé inszeniert sich auf Internetnetzwerken als «glucose goddess», auf Deutsch: Glukose-Göttin. An ihrem Oberarm trägt sie eine kleine weisse Scheibe – einen Glukosesensor, der über eine kleine Nadel Tag und Nacht ihren Zuckerwert misst. Diesen überträgt der Sensor auf ihr Smartphone. So kontrolliert Inchauspé ständig, wie sich ihre Mahlzeiten auf den Zuckerwert auswirken: Isst sie einen süssen Muffin, steigt der Wert, nach einem Salat verändert er sich nur wenig.
Firmen wie Abbott und Dexcom entwickelten solche Sensoren urspünglich für Diabetespatienten. Kosten: rund 60 bis 80 Franken für zwei Wochen. Danach muss man den Sensor ersetzen. Er misst den Zuckerwert nicht im Blut, sondern in der Gewebeflüssigkeit der Unterhaut.
Sensor verhindert angeblich falsche Ernährung
Laut Jessie Inchauspé sollen auch Gesunde solche Sensoren tragen. Dafür wirbt sie in ihrem Bestsellerbuch «Der Glukose-Trick» und auf Glucosegoddess.com. Sie behauptet, ein stark schwankender Blutzuckerspiegel verursache alle möglichen Beschwerden und Krankheiten: Müdigkeit, Migräne, Akne, Depressionen, Unfruchtbarkeit, sogar Krebs und Alzheimer. Der Sensor hilft angeblich, so zu essen, dass die Blutzuckerkurve möglichst flach verläuft.
Dafür soll man bei einer Mahlzeit zum Beispiel zuerst Gemüse oder Salat essen, danach Eiweisse wie Fisch oder Fleisch und am Schluss die Kohlenhydrate wie Nudeln und das süsse Dessert. Hilfreich sei ein Schluck Essig vor der Mahlzeit, das bremse den Anstieg des Blutzuckerspiegels.
uch in der Schweiz preisen Ernährungscoaches solche Sensoren für Leute ohne Diabetes an: Laut dem Ernährungszentrum Optikal in Zug helfen die Geräte, Ernährungsfehlern auf die Spur zu kommen. Und das Wellnesshotel Grand Resort Bad Ragaz SG bietet Kurse an, bei denen die Sensoren «als Basis für personalisierte Ernährungsempfehlungen» dienen.
«Messungen haben keine Aussagekraft»
Fachleute halten nichts von solchen Messungen. Diabetesarzt Stefan Fischli vom Luzerner Kantonsspital sagt: «Es gibt für Gesunde keinen Grund, ihren Blutzucker mit einem Sensor zu überwachen.» Bei ihnen würden die Schwankungen nur sehr gering ausfallen und wenig Aussagekraft haben. Zudem hätten die Schwankungen keine Folgen für die Gesundheit. «Es gibt keine Studien, die einen Zusammenhang zwischen normalen Blutzuckerschwankungen bei Gesunden und Krankheiten nachweisen», sagt Fischli. Nur bei Diabetespatienten gebe es Hinweise, dass starke Schwankungen das Risiko von Folgekrankheiten wie Schäden an der Netzhaut erhöhen.
Jessie Inchauspé verweist in ihrem Buch zwar auf wissenschaftliche Literatur und stützt ihre Thesen auf biochemische Abläufe, die im Körper Schäden anrichten sollen. Doch laut Stefan Fischli sind die Erklärungen nicht nachvollziehbar: «Da spiegelt man Leuten unter dem Deckmantel der Wissenschaft falsche Tatsachen vor.»
Auch Sabine Rohrmann, Ernährungswissenschafterin an der Uni Zürich, rät von Glukosesensoren für Gesunde ab: «Es braucht keine Blutzuckerkurve, um sich gesund und ausgewogen zu ernähren.» Einfache Essregeln genügen: Statt Süssigkeiten und Weissbrot sollte man zum Beispiel ein Vollkornbrot, Naturreis oder Müesli essen. So steigt der Blutzuckerspiegel weniger schnell an und sinkt nicht gleich wieder. Folge: Man bleibt länger satt und hat nicht bald wieder Lust auf einen Snack.
Richtig ist hingegen Inchauspés Tipp, vor einer Mahlzeit Salat oder Gemüse zu essen. Sabine Rohrmann: «Salat füllt den Magen und sättigt, ohne viele Kalorien zu liefern. So isst man danach weniger.» Auch dafür braucht es keinen Glukosesensor. Ein weiterer Punkt: Der Blutzuckerspiegel hängt nicht nur vom Essen ab. Er reagiert genauso auf Stress, Infekte, die Tageszeit oder – bei Frauen – auf Hormonschwankungen während des Zyklus. Sabine Rohrmann: «Es ist für Laien schwierig, die Werte richtig zu interpretieren und daraus Schlüsse zu ziehen.»
«Ständiges Messen der Werte kann schaden»
Hinzu kommt: Das ständige Messen und Beobachten von Körperfunktionen kann schaden. Gesundheitstipp-Ärztin Stephanie Wolff sagt: «Wer sich beim Essen auf Geräte und Apps verlässt, verliert das Gefühl für den eigenen Körper, für Hunger und Sättigung.»
Auch bei Leuten mit Essstörungen ist das riskant. Stefan Fischli: «Das ständige Kontrollieren und die strengen Regeln beim Essen können solche Probleme fördern.» Fischli hält Glukosesensoren bei Gesunden nur im Einzelfall für nützlich, zum Beispiel im Vorstadium von Diabetes. Dann könnten der Einsatz des Sensors und zusätzlich ein Essprotokoll veranschaulichen, wie die Ernährung den Zuckerspiegel beeinflusst.
Das «Grand Resort Bad Ragaz» schreibt dem Gesundheitstipp, man empfehle Glukosesensoren als zweiwöchiges Experiment. Dabei lerne man, den Verlauf des eigenen Blutzuckerspiegels zu erkennen, um eine passende, gesunde Ernährung zu finden.
Das Ernährungszentrum Optikal sagt, es verwende Glukosesensoren nur bei Patienten mit Stoffwechselproblemen, zum Beispiel bei krankhaftem Übergewicht, wenn das Abnehmen nicht klappe, oder nach einer Magenoperation.
Tipps für eine gesunde Ernährung
• Kaufen Sie frische, unverarbeitete Lebensmittel aus der Region.
• Füllen Sie beim Essen die Hälfte des Tellers mit Gemüse, Salat und Obst.
• Geniessen Sie etwa die Hälfte der täglichen Menge an Salat, Obst und Gemüse ungekocht.
• Essen Sie Naturreis, Vollkornbrot und Müesliflocken: Sie liefern viele wertvolle Fasern und sättigen lange.
• Ergänzen Sie die Mahlzeit mit Kichererbsen, Linsen sowie Nüssen, Joghurt, Quark, Eiern, Fisch und wenig Fleisch.
• Wählen Sie möglichst ungesüsste Getränke.
• Nehmen Sie sich Zeit beim Essen. So merken Sie besser, wann Sie satt sind.