Die grössten Sorgen mache ich mir jeweils vor der jährlichen Kontrolle beim Herzspezialisten. Meine Hauptschlagader, die Aorta, ist um 12 Millimeter erweitert. Seit 11 Jahren bin ich blind. Die Krankheit des Bindegewebes hat die Netzhaut beider Augen zerstört. Ich leide auch an chronischen Schmerzen – in allen Gliedern und Gelenken. Unter anderem habe ich einen Senkfuss und starke Schmerzen im Sprunggelenk. Ich habe die zweite Fussoperation hinter mir, weil ich auf dem Fuss kaum mehr stehen konnte. Und weil ich als Blinder keine Krücken benutzen kann, musste ich drei Monate im Rollstuhl verbringen.
Alles begann mit einem Knacks im Rücken, als ich etwas Schweres hochhob. Ich war 30 Jahre alt, als die Ärzte im Berner Inselspital die Diagnose stellten: Marfan-Syndrom. Es war ein Schock. Ich hatte von dieser Krankheit noch nie gehört. Sie ist unheilbar. Es gibt keine Medikamente dagegen. Dank intensiver Physiotherapie konnte ich nach ein paar Monaten wieder gehen. Doch meine Kräfte liessen immer mehr nach, die Arbeit als Kaminfeger wurde zu anstrengend. Die IV finanzierte mir die Umschulung zum Sozialpädagogen. Bis ich 45 war, arbeitete ich 100 Prozent im neuen Beruf, leidenschaftlich gern.
Dann aber kam alles wie eine Lawine: massive Rückenprobleme, Seh- und Herzrhythmusstörungen. Therapien und Schmerzmittel halfen vorübergehend. Doch die Sehkraft liess nach, bis ich erblindete. Damals fragte ich mich: «Wieso soll ich weiterleben?» Ich raffte mich aber wieder auf. Ich machte ein Mobilitätstraining, lernte die Blindenschrift und das Sprachprogramm auf dem PC. Das brachte mir einen Teil Lebensqualität zurück.
Das Marfan-Syndrom ist erblich. Meine Mutter starb mit 36 Jahren an Herzversagen. Ich forschte bei ihrem Arzt nach und stellte fest: Sie muss auch am Marfan-Syndrom gelitten haben. Ich riet meinen Geschwistern zu einem Untersuch. Bei beiden wurde die Hauptschlagader immer grösser. Mein Bruder starb mit 48 an einem Aortariss, meine Schwester mit 47, nachdem sie sieben Jahre zuvor ein Spenderherz bekommen hatte.
Meine Frau und ich hatten uns dennoch für Kinder entschieden. Unsere Tochter Seline ist kerngesund. Kevin hingegen hat eine leichte Form des Marfan-Syndroms. Er ist jetzt 25 und hat keine grösseren Beschwerden. Wir hoffen, dass dies noch lange so bleiben wird.
Heute fülle ich meine Tage so aus, dass mir wenig Zeit bleibt, über die Krankheit nachzudenken. Ich bin Vizepräsident der Sektion Berner Oberland des Schweizerischen Blindenverbands, halte Vorträge in Schulen und Vereinen und serviere immer mal wieder bei «Essen im Dunklen». Viel Freude habe ich an Tandem-Fahrten mit einem Kollegen und an Country Konzerten, die ich mit Freunden besuche. All dies und meine Familie machen mein Leben trotz der Krankheit lebenswert.
Marfan-Syndrom: Unheilbare Krankheit des Bindegewebes
Das Marfan-Syndrom ist eine erbliche Krankheit des Bindegewebes. Oft sind Blutgefässe, Gelenke, Augen, Hauptschlagader, Lungen oder die Haut betroffen. Der Brustkorb kann ungewöhnlich geformt, Füsse können fehlgebildet sein. Viele Betroffene sind auffällig schmalgliederig. Mit regelmässigen Kontrollen und guter Betreuung haben Patienten eine nahezu normale Lebenserwartung. Manchmal bleibt die Krankheit aber auch unerkannt. In der Schweiz sind etwa 1600 Menschen von der Krankheit betroffen.
Kontakt und Infos
Marfan-Stiftung Schweiz, Marktgasse 31, 3011 Bern
Tel. 031 312 11 22, www.marfan.ch, info@marfan.ch