Die Krebsgefahr aus dem Kühlturm
Kurz vor Weihnachten deckte eine deutsche Studie auf: In der Nähe von Atomkraftwerken erkranken mehr Kinder an Leukämie. Zufall, sagt die Atomlobby. Doch Ärzte sagen: In der Nähe von AKWs ist die Radioaktivität gefährlicher, als die Betreiber behaupten.
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Gesundheitstipp 02/2008
18.02.2008
Tobias Frey
Die Studie der deutschen Professorin Maria Blettner lässt keinen Zweifel: Kinder, die in der Nähe eines Atomkraftwerks (AKW) aufwachsen, haben ein deutlich höheres Krebs- und Leukämierisiko als andere. 77 der untersuchten Kinder hatten Krebs. Das ist ein Drittel mehr, als die Wissenschaftler aufgrund der Statistik erwarteten. 37 der krebskranken Kinder hatten Leukämie – doppelt so viele wie erwartet.
Die Behörden beschwichtigten rasch. Das Bu...
Die Studie der deutschen Professorin Maria Blettner lässt keinen Zweifel: Kinder, die in der Nähe eines Atomkraftwerks (AKW) aufwachsen, haben ein deutlich höheres Krebs- und Leukämierisiko als andere. 77 der untersuchten Kinder hatten Krebs. Das ist ein Drittel mehr, als die Wissenschaftler aufgrund der Statistik erwarteten. 37 der krebskranken Kinder hatten Leukämie – doppelt so viele wie erwartet.
Die Behörden beschwichtigten rasch. Das Bundesamt für Gesundheit liess verlauten, die radioaktive Strahlung um AKWs sei zu gering, um den «Effekt» zu erklären. Auch Swissnuclear – der Verband der AKW-Betreiber – sagte, die Bevölkerung müsse «keine Angst» haben. Im Flugzeug oder in den Bergen sei die natürliche Strahlung grösser als rund um die Atomkraftwerke.
Mehrere Studien belegen das Risiko für AKW-Anwohner
Doch jetzt wird Kritik laut an solchen Aussagen. Der Grenchner Arzt Martin Walter: «Behörden und Atomlobby verharmlosen die Risiken.» Claudio Knüsli, Basler Krebsspezialist und Präsident der Ärzte für soziale Verantwortung, erinnern solche Aussagen gar an «mittelalterliche Glaubenslehren».
In der Tat belegen auch frühere Studien, dass in der Umgebung eines Atomkraftwerks erhöhte Krebsgefahr besteht. So zeigte vor sieben Jahren eine Untersuchung, dass in Gemeinden rund um das bayrische AKW Gundremmingen mehr Kinder Leukämie haben. Ähnliche Resultate gibts zum AKW Krümmel bei Hamburg sowie zu den Atomanlagen im französischen La Hague und im englischen Sellafield.
Aus einem Atomkraftwerk gelangen ständig kleine Mengen Radioaktivität in die Umwelt: aus dem Kühlturm, durch Mauern, mit dem Abwasser. Beispiel Kernkraftwerk Leibstadt: Dem Gesundheitstipp liegen Messungen aus dem Jahr 2005 vor. Der höchste Wert stammt vom Geländezaun. Die radioaktive Dosis pro Jahr betrug dort über ein Millisievert. Rund die Hälfte stammte vom AKW, der Rest aus dem Untergrund und aus dem Kosmos. Diese Dosis entspricht einer Röntgenaufnahme des Beckens. Mit dieser Dosis hat ein Mensch den gesetzlichen Grenzwert von einem Millisievert bereits erreicht.
In Leibstadt waren zwar die Grenzwerte eingehalten, doch Arzt Knüsli sagt: «Es gibt keinen Grenzwert, unter dem Radioaktivität ungefährlich ist.»
Beispiel Reaktorkatastrophe Tschernobyl: Frauen, die weniger als 5 Millisievert Strahlung abbekommen hatten, erkrankten gleich häufig an Brustkrebs wie Frauen in stärker verstrahlten Gebieten. Oder: Die Internationale Agentur für Krebsforschung hat Daten von 400 000 AKW-Angestellten ausgewertet. Gegen 8000 von ihnen starben an Krebs – wegen der radioaktiven Verstrahlung am Arbeitsplatz. Das sind, so Krebsarzt Knüsli, rund fünfmal mehr Patienten, als Wissenschaftler erwartet hatten. Knüsli: «Die Behörden mussten in der Vergangenheit ihre Risikoeinschätzungen immer wieder korrigieren.»
Die AKW-Strahlung ist zudem nicht mit der natürlichen aus dem Kosmos vergleichbar: Aus dem AKW gelangen radioaktive Atome wie Strontium-90 oder Cäsium-137 in die Umwelt. Und die nimmt man über die Atmung oder die Nahrung auf. Knüsli: «Was solche Moleküle im Körper langfristig anrichten, ist erst teilweise erforscht.»
Swissnuclear schreibt dem Gesundheitstipp: «Die deutsche Studie konnte nicht nachweisen, dass ein Zusammenhang besteht zwischen Leukämie und allfälliger Strahlung eines Kernkraftwerks.» Die Wissenschaft sei sich auch «ganz und gar nicht einig», ob kleine Dosen Radioaktivität schädlich seien. Und zudem hätte man Grenzwerte in der Schweiz «auch schon gesenkt». Das Bundesamt für Gesundheit schreibt, das Strontium und Cäsium stamme aus Kernwaffenversuchen und aus dem zerstörten Reaktor in Tschernobyl.
16 000 Wanzen untersucht: Bis zu 30 Prozent verkrüppelt
Die Zürcher Wissenschaftszeichnerin Cornelia Hesse-Honegger untersucht seit über zwanzig Jahren Wanzen in der Nähe europäischer und amerikanischer Atomanlagen. 16 000 Tiere sind es bis heute. Das Resultat ihrer Beobachtungen: In den Hauptwindrichtungen haben bis zu 30 Prozent aller Wanzen verkrüppelte Köpfe, Flügel, Fühler, Beine und Panzer. Normal sei etwa 1 Prozent. Hesse-Honegger: «Die Radioaktivität aus den Atomkraftwerken ist an den Verkrüppelungen schuld.» Wanzen würden auf niedrige Strahlendosen reagieren.
Swissnuclear verweist auf eine Gegenstudie der ETH Zürich, die Hesse-Honegger nicht bestätige. Das Bundesamt für Gesundheit schrieb, andere Faktoren wie das «Wetter» seien vermutlich Schuld an den Verkrüppelungen.
Warum Kinder in der Nähe von Atomkraftwerken an Leukämie erkranken, ist unklar. Noch keine Studie konnte direkt beweisen, dass die radioaktiven Strahlen verantwortlich sind. Krebsspezialist Claudio Knüsli verweist auf Studien aus Sellafield. Sie hätten gezeigt, dass vor allem Kinder von AKW-Angestellten gefährdet seien. Der Grund: Die verstrahlten Arbeiter geben ihre Schäden am Erbgut ihren Kindern weiter.
Auch die Krebsliga will jetzt herausfinden, ob Kinder in der Nähe von Schweizer AKWs häufiger an Leukämie erkranken: Sie hat eine Studie in Auftrag gegeben. Der Grenchner Martin Walter bezweifelt allerdings, ob man je eine eindeutige Aussage machen kann. Denn in der deutschen Studie konnte man über 6000 Kinder untersuchen. In der Schweiz erkranken jedes Jahr rund 200 Kinder an Leukämie. Walter: «Das ist für ein statistisches Resultat zu wenig.»
Die AKW-Betreiber können zur Tagesordnung übergehen.