Schon seit ihrer Kindheit fühlt sich Ruth Widmer (Name geändert) «anders», nicht dazugehörig. Als Jugendliche in der Disco, später an Partys sei es ihr schnell zu viel geworden: die laute Musik, die vielen Menschen, Bewegungen und Gespräche. Weil sie nicht als Aussenseiterin dastehen wollte, blieb sie jeweils trotzdem dort. Doch fühlte sie sich schnell überfordert und erschöpft. «Vor einem halben Jahr drückte mir eine Kollegin einen Zeitungsartikel über Hochsensibilität in die Hand», erzählt die nun 65-Jährige. «Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen.»
Ursula Schuler aus Winterthur ZH ergeht es ähnlich unter Leuten. Zudem: «Wenn ich in einen Raum komme, merke ich sofort, wenn es jemandem nicht gut geht», sagt die 60-jährige Lehrerin. Das könne sie mehrere Tage beschäftigen – selbst wenn sie die Person gar nicht kenne. Schuler hat sich ihr ganzes Leben lang «anders» gefühlt und sich stets angepasst: «Ich wollte normal sein», sagt sie. Im Internet las sie einen Text über Hochsensibilität. «Ich wusste sofort – ich bin auch so.»
Der Begriff Hochsensibilität geht auf die US-Psychologin Elaine N. Aron zurück. Sie hat ihn vor rund 20 Jahren geprägt: Hochsensible seien feinfühliger als andere, weil sie Reize anders verarbeiten. Sie würden auf Sinneseindrücke schneller anspringen und sie langsamer verarbeiten. Über eine gemeine Bemerkung könnten sie tagelang grübeln. Ein unerwartetes Kompliment mache sie überglücklich. Seither liegt Hochsensibilität im Trend. Eine Flut von Büchern, Kursen, Beratungen und Selbsthilfegruppen zeugt davon. Im Herbst fand in der Nähe von Bern ein Kongress für Hochsensible statt.
Fachleute bezweifeln Arons Aussagen. Andreas Meissner, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, sagt, viele vermeintlich Hochsensible würden an etwas anderem leiden: Sie seien schlicht sehr empfindsam, introvertiert, schüchtern – oder litten unter psychischen Störungen wie Ängsten oder Depressionen.
Gesundheitstipp-Arzt Thomas Walser ergänzt: «Der Begriff Hochsensibilität verwirrt und ist überflüssig.» Übermässige Empfindsamkeit komme bei vielen psychischen Krankheiten vor. Intensive, emotionale Sensibilität zeichne zum Beispiel Borderline-Patienten aus.
Überschneidungen mit Sozialphobie
Auch beim sozialen Umgang gibt es Überschneidungen: Viele Betroffene berichten, dass sie sich wegen der Reizüberflutung gern zurückziehen. Auch Depressive und Menschen mit einer Sozialphobie bleiben oft zu Hause – aus Antriebslosigkeit, Stress oder weil sie besonders dünnhäutig auf Lärm, böse Blicke oder Kommentare anderer reagieren. Eine österreichische Studie zeigte 2014: Je stärker die Hochsensibilität, umso höher die Werte von Stress, Ängstlichkeit und Depression.
Psychiatrische Diagnosen wie Depression, Borderline oder Angststörungen stigmatisierten die Leute, sagt Walser. Hier sieht er einen Vorteil der «Hochsensibilität»: «Wer psychisch nicht stabil ist, lässt sich vielleicht eher auf eine Therapie ein, wenn er hört, dass er hochsensibel ist.»
Tipps
- So bleiben Sie psychisch gesund
- Pflegen Sie soziale Kontakte.
- Treiben Sie Sport.
- Lernen Sie Entspannungstechniken.
- Vermeiden Sie Stress.
- Sprechen Sie mit vertrauten Personen über Dinge, die Sie beschäftigen.
- Holen Sie sich professionelle Hilfe, wenn die seelische Belastung zu gross wird.