Wenn Agnes Lüchinger negative Gefühle wie Wut verspürt, bekommt sie Lust auf eine grosse Portion Spaghetti mit Käse und Tomatensauce. «Nachher ist das Leben wieder schön», sagt die 68-Jährige aus Trubschachen BE. «Und ich frage mich dann, warum ich mich aufgeregt habe.»
Viele Menschen verhalten sich ähnlich: Sie essen nicht nur, wenn sie hungrig sind, sondern auch aus Frust, Enttäuschung oder Stress. Fachleute nennen das Frusthunger. Typischerweise isst man dann fettige und süsse Speisen wie Chips oder Schokolade. Nachher fühlt man sich tatsächlich besser. Denn Zucker und Fett führen dazu, dass der Körper das Glückshormon Dopamin ausschüttet.
Frusthunger fördert Essstörungen und Übergewicht
Doch das ist keine Lösung für seelische Probleme, sagt Bettina Isenschmid, Spezialistin für Essstörungen und Übergewicht am Spital Region Oberaargau in Langenthal BE. Denn Frusthunger führt bei vielen Leuten zu Übergewicht. Deshalb empfiehlt Bettina Isenschmid, andere Methoden zu suchen, um sich zu beruhigen oder zu belohnen, «etwa ein gutes Gespräch, anregende Musik oder ein Spaziergang in der Natur».
Hungergefühle können tückisch sein. Weil Essen fast überall und jederzeit verfügbar ist, isst man oft auch dann, wenn man keine Kalorien braucht. Fachleute unterscheiden zwischen sechs verschiedenen Formen des Hungers.
Auch der Augen- und Nasenhunger fördert das Übergewicht: Man isst etwas, weil es schön aussieht oder gut riecht. «Diese Signale sind besonders schwierig zu kontrollieren», sagt Bettina Isenschmid. «Denn sie wirken vor allem im Unbewussten.»
Der Duft von Speisen regt den Hunger noch stärker an als ihr Anblick. Das zeigte vor drei Jahren ein Versuch von Psychologen der Macquarie-Universität in Sydney (AUS) mit 36 Teilnehmern. Isenschmid empfiehlt, keine Lebensmittel sichtbar in der Wohnung aufzubewahren und sich unterwegs möglichst rasch von duftenden Speisen zu entfernen, um zu vermeiden, dass man überflüssige Kalorien zu sich nimmt.
Besonders riskant sind Heisshungeranfälle. Sie treten laut Ärztin Isenschmid vor allem dann auf, wenn jemand eine harte Diät macht. Auch Stress, Schlafmangel, eine Schwangerschaft oder Sport können zu Heisshunger führen. Die Folge: Man isst unkontrolliert grosse Mengen Snacks und Süsses.
Als Massnahme gegen Heisshunger empfehlen Ernährungsfachleute eine regelmässige, ausgewogene und leichte Ernährung mit viel Salat und Gemüse (Gesundheitstipp 2/2021).
Wer stark unter Heisshunger leidet, sollte eine Verhaltenstherapie in einem Spital oder in einer Klinik machen. Sie hilft, Essanfälle zu vermeiden. Das zeigte eine Studie der Washington-Universität in St. Louis (USA).
«Echter Hunger» ist gut für die Gesundheit
Oft isst man zu bestimmten Zeiten, ohne dass man wirklich hungrig ist – zum Beispiel das Mittagessen um 12 Uhr oder das Znacht um 18.30 Uhr. Das lässt sich kaum vermeiden, wenn man eine Familie hat. Fachleute nennen dieses Essverhalten Gewohnheitshunger. Es kann zu Übergewicht führen, wenn man zu viele Kalorien isst.
Trotzdem empfehlen Fachleute auch Übergewichtigen, regelmässig zu fixen Zeiten zu essen. Denn viele Zivilisationskrankheiten seien Folge eines unregelmässigen Tagesablaufs, sagt Gesundheitstipp-Arzt Thomas Walser.
Die gesündeste Form des Hungers entsteht, wenn der Körper frische Kalorien braucht, zum Beispiel nach einer langen Wanderung oder wenn man längere Zeit nichts gegessen hat. Experten nennen dies den «echten Hunger».
Er ist laut Ärztin Bettina Isenschmid in unserer Gesellschaft die seltenste Form des Hungers. Ein Loch im Bauch und ein knurrender Magen – das fühle sich zwar manchmal unangenehm an, sagt Thomas Walser. Es sei aber gut für die Gesundheit, wenn man echten Hunger spüren könne.
Weniger essen und sich genug Zeit für Mahlzeiten nehmen
«Hunger und Sättigung sind zwei Körpersignale, die viele Leute wieder neu erlernen müssen», so Walser. Eine gute Methode, um dies zu lernen, ist das Intervallfasten. Dabei verzichtet man jeden Tag auf das Frühstück oder das Nachtessen. Grundsätzlich gilt: Wenn man Pausen beim Essen einlegt, ist die Gefahr, mehr zu essen, als man braucht, kleiner. Walser rät zudem, sich viel Zeit für die Mahlzeiten zu nehmen und langsam zu essen, denn das Sättigungsgefühl stelle sich erst rund 20 bis 30 Minuten nach Beginn der Mahlzeit ein.
Umfrage: Welche Art von Hunger haben Sie?
Agnes Lüchinger, 68, Trubschachen BE
«Ich spüre manchmal Frusthunger. Ich esse viel Pasta mit Tomatensauce und Käse, wenn ich aus dem seelischen Gleichgewicht gerate oder wenn mich jemand wütend macht.»
David Wyler, 25, Uetikon am See ZH
«Ich bekomme beim Arbeiten Hunger, denn als Elektroinstallateur bewege ich mich viel. Zwischendurch esse ich Snacks, um Heisshunger zu vermeiden.»
Yan Schmid, 47, Oberglatt ZH
«Ich bekomme Heisshunger, wenn ich abends Cannabis rauche. Kiffen regt den Hunger an. Das ist blöd, denn ich möchte eigentlich abnehmen.»