Es fing scheinbar harmlos an. Als sie 12 Jahre alt war, begann Sabina, sich für gesundes Essen zu interessieren. Sie ass weniger Süsses, dafür mehr Gemüse. Ihr Vater Samuel Eichner (Name geändert) berichtet: «Am Anfang fanden wir das gut. Wir dachten, unsere Tochter werde reifer und schaue besser zu sich.»
Dann strich das Mädchen gewisse Mahlzeiten vom Speiseplan. «Essen, das wir mit Öl oder Butter gekocht hatten, schob sie an den Tellerrand, ohne Erklärung», sagt Eichner. Ausserdem machte sie aus einer Mahlzeit ein Ritual. «Sie schnitt ihre Peperonis in ganz kleine Stücke und ass sie Stückchen für Stückchen.» Das Paradoxe: Gleichzeitig verbrachte das Mädchen gerne Zeit in der Küche und buk Kuchen – bloss für andere, nur nicht für sich. Alle Gedanken drehten sich ums Essen.
Seither sind sieben Jahre vergangen. Eichners Tochter isst bis heute fast nichts. Mit 14 Jahren war sie zum ersten Mal in der Klinik. Eichner: «Ich habe ständig Angst, dass sie sich zu Tode hungert.»
Essstörung beginnt häufig unmerklich
Oft merken die Eltern lange nicht, dass ihr Kind in eine Essstörung rutscht. So ging es auch Samuel Eichner. Er sagt: «Wenn ich gewusst hätte, wie eine Magersucht anfängt, hätte ich viel früher Hilfe geholt.»
Fachleute kennen das Problem. Thomas Brunner, Leiter Jugendberatung bei Pro Juventute: «Betroffene verbergen vor ihren Eltern, dass sie abnehmen wollen. Sie haben Angst, dass die Eltern sie sonst dazu auffordern, zu essen – und genau das wollen sie ja nicht.»
Wenn man die Störung früh erkennen und behandeln kann, sind die Heilungschancen besser. Erika Toman, Psychologin und Leiterin des Kompetenzzentrums für Essstörungen und Adipositas in Zürich, sagt: «Je früher die Jugendlichen Hilfe bekommen, desto weniger wird die Krankheit chronisch.»
Bei Familie Eichner eskalierte die Situation. Sabina zog sich immer mehr in ihr Zimmer zurück. Sie traf keine Freundinnen mehr und mied es, mit der Familie Ausflüge zu machen. «Sie wollte nicht in Situationen geraten, in denen sie mit anderen Leuten zusammen essen muss», sagt Eichner.
Auch zu Hause suchte das Mädchen nach Ausreden, um nichts essen zu müssen. Heute ist Samuel Eichner klar: «Sie tat alles, um zu verheimlichen, dass sie fast gar nichts ass.» Und wenn sie doch etwas zu sich nahm, ging sie danach ins Zimmer und machte Fitnessübungen. Oder sie rannte das Treppenhaus hoch und runter, um Kalorien zu verbrennen. Wenn ihr Vater sie stoppen wollte, brüllte und weinte sie, es kam zu Gewalttätigkeiten. Eichner: «Es war schrecklich für die ganze Familie.»
Schliesslich brach Sabina zusammen. Sie wog nur noch knapp 26 Kilo. Im Spital ernährten sie die Ärzte unter Zwang. Sie nahm zwar zu, hatte aber immer wieder Rückfälle, kam fünf weitere Male ins Spital. Bis heute zeigt sie keine Einsicht.
«Kritik oder Zwang zum Essen bringt nichts»
Für Fachleute ist klar: Eltern können ihrem Kind bereits früh etwas Gutes tun. So helfen sie ihm zu realisieren, dass es krank ist. Thomas Brunner: «Die Betroffenen müssen erkennen, dass die ‹schädlichen› Aspekte rund ums Essen für sie zu wichtig geworden sind.» Das sei der erste Schritt zur Heilung.
Brunner rät den Eltern, ihrem Kind frühzeitig zu sagen, dass sie sich Sorgen machen. Kritik oder gar Zwang zum Essen bringe hingegen nichts. Jugendliche fühlten sich dann nicht ernst genommen und zögen sich noch mehr zurück. Anteilnahme sei besser.
Die Mutter oder der Vater könnten zum Beispiel so auf das Kind zugehen: «Ich habe das Gefühl, dass du in letzter Zeit nicht mehr gerne isst, was ich koche. Was müsste ich kochen, damit du Lust hast, mitzuessen?» Dann könne man, so Brunner, nachfragen, warum beispielsweise Salat besser sei als Spaghetti. «Vielleicht trauen sich die Jugendlichen dann zu sagen, dass sie abnehmen möchten.» Häufig komme heraus, dass Jugendliche gerne attraktiver sein möchten. Brunner fragt sie dann: «Mögen dich deine Freunde, weil du dünn bist?» So kämen sie häufig zur Einsicht, dass es nicht um die Kilos geht.
Wenn Jugendliche innert kürzester Zeit abnehmen, niedergeschlagen werden oder ihre Periode nicht mehr kriegen, sollten ihre Eltern allerdings sofort Hilfe holen – und das ihrem Kind auch mitteilen. «Die Jugendlichen sollen erkennen: Es ist ernst, meine Eltern wissen alleine nicht mehr weiter», sagt Brunner. So merkten sie manchmal selber, wie «absurd es ist, die ganze Zeit ans Abnehmen zu denken».
Interesse zeigen am Alltag des Kindes
Psychologin Erika Toman rät den Eltern, grundsätzlich Interesse zu zeigen für das Kind und seine Erlebnisse – und nicht nur für seine Leistung in der Schule oder beim Sport. «Dann merkt man, dass man es gern hat und akzeptiert, so wie es ist.»
Essstörungen sind nicht harmlos. Die jungen Frauen leiden unter Mangelernährung, ihre Knochen bekommen zu wenig Kalzium und werden im Alter schnell brüchig. Ausserdem kriegen sie ihre Periode nicht mehr. Kommt hinzu: Menschen mit Essstörungen haben häufiger Schlafstörungen, Depressionen und Angstzustände. 5 bis 20 Prozent der Betroffenen sterben an der Unterernährung.
Nützliche Adressen:
Die Pro Juventute berät Eltern rund um die Uhr: Tel. 058 261 61 61.
Die Arbeitsgemeinschaft Essstörungen berät am Telefon oder zu Hause. Unter www.aes.ch/tipps/fragebogen.html gibt es einen Fragebogen für Angehörige: So können sie herausfinden, ob eine Essstörung vorliegt.
Die Website www.netzwerk-essstoerungen.ch liefert Infos und Adressen von spezialisierten Ärzten und Kliniken.
Auf www.selbsthilfeschweiz.ch finden Sie Adressen von Selbsthilfegruppen für Angehörige von Jugendlichen mit Essstörungen in Ihrer Region.
Tipps: So fördern Sie ein gesundes Essverhalten
- Essen Sie mindestens einmal pro Tag mit der Familie am Tisch.
- Seien Sie ein Vorbild: Geniessen Sie das Essen, statt ständig Diäten zu machen.
- Zwingen Sie Ihr Kind nicht zum Essen.
- Sprechen Sie nicht immer übers Aussehen.
- Loben Sie Ihr Kind nicht nur dafür, wie toll es aussieht oder wie gut es in der Schule ist.
- Zeigen Sie Interesse für das, was Ihr Kind macht. Das fördert ein gesundes Selbstvertrauen.
- Holen Sie Hilfe, wenn Ihr Kind schnell abnimmt, sehr nieder-geschlagen wird oder ständig mit dem Essen beschäftigt ist.
- Machen Sie eine Familientherapie. Die Situa-tion ist nicht nur für die Betroffenen schwierig, sondern auch für Eltern und Geschwister.