Basile Schneider aus Kirchdorf AG verletzte sich vor einigen Monaten beim Sport an der Schulter. Die Diagnose: Knorpelschaden. Der Arzt griff zu einer unkonventionellen Methode: Er klebte dem 19-jährigen während drei Monaten ein Klebeband, ein sogenanntes Kinesio-Tape auf die Schulter und auf die angrenzenden Muskelpartien. Es sollte das Gelenk stabilisieren. Mit Erfolg: «Das Band hat mir geholfen, nach der Verletzung wieder fit zu werden», sagt der junge Zehnkämpfer. Heute kann er seine Schulter wieder wie vor dem Unfall bewegen.
Der Japaner Kenzo Kase entwickelte das Kinesio-Tape vor über 40 Jahren, um körpereigene Heilungskräfte zu aktivieren.
Bei den Tapes handelt sich um elastische Baumwollbänder, die auf einer Seite kleben. In der Regel legt ein Physiotherapeut die Kinesio-Tapes an. Sie kleben fest auf der Haut und massieren bei jeder Bewegung die darunter liegenden Sinneszellen. Diese registrieren diese Bewegungen und unterbrechen das Weiterleiten des Schmerzes an das Gehirn.
Auch die Blutzirkulation und das Entfernen von Flüssigkeit durch das Lymphsystem lässt sich mit Kinesio-Tapes aktivieren. Dazu spannt man den Muskel in der betreffenden Region an und klebt das Tape drauf. Wenn man den Muskel entspannt, wellt sich das Tape auf der Haut, die dadurch leicht angehoben wird. So können Blut und Lymphe besser zirkulieren.
Diese Anwendung macht vor allem dann Sinn, wenn eine Körperregion geschwollen ist und die Flüssigkeiten nicht mehr gut abfliessen. Das Tape lässt sich auch so kleben, dass sich der Muskel entspannt oder dass ihn das Tape stützt. Man aktiviert so andere und zum Teil tiefer liegende Muskeln, der verspannte Muskel wird entlastet. Ausserdem hilft das Kinesio-Tape auch, dass Gelenke wieder besser funktionieren. Dazu klebt man es auf bestimmte Muskeln rund ums Gelenk. Folge: Man regt die Muskeln an, die zu wenig aktiv sind, und entspannt jene, die verkrampft sind.
Die Zürcher Physiotherapeutin Karin Marchetti benutzt Tapes vor allem bei Sportverletzungen: «Dadurch kann man zum Beispiel ein Knie unterstützen, nachdem die Kniescheibe herausgesprungen ist.» Dazu klebt man Tapes rund ums Knie, damit die Kniescheibe besser geführt wird, wenn sie sich bewegt. Gleichzeitig aktivert man die Muskeln rund ums Knie mit Tapes.
Auch ein Tennis-Ellbogen oder eine ausgerenkte Schulter kann man unterstützend mit Kinesio Tapes behandeln. «Meist spürt man sofort nach dem Anlegen eine Verbesserung», sagt Karin Marchetti. Das Kinesio-Tape ist jedoch meist eine von mehreren Massnahmen, um Beschwerden zu lindern. «Manchmal muss man zusätzlich ein Gelenk behandeln, Muskeln dehnen oder Nerven mobilisieren», sagt Karin Marchetti.
Tapes können nicht nur nach einer Verletzung Schmerzen lindern, sondern auch vor Verletzungen schützen. Das weiss auch Freizeitsportler Basile Schneider. Er klebt sich Kinesio-Tapes auf die Oberschenkelmuskeln. Dort sollen sie dafür sorgen, dass sich die Muskeln bei starker Anstrengung nicht überdehnen. Sportarzt Walter O. Frey von der Universitätsklinik Balgrist Movemed in Zürich erklärt: «Wenn sich der Muskel dehnt, zieht das Kinesio-Tape an der Haut und sendet ein Signal aus: Achtung, Gefahr! Die Muskeln spannen sich an und überdehnen sich nicht.»
Die Wirkung der Tapes ist umstritten. Bei vielen Studien machten zu wenig Patienten mit, um zu einem klaren Ergebnis zu kommen. Zu diesem Schluss kam vor wenigen Jahren eine Übersichtsarbeit des Verbands der österreichischen Sozialversicherer.
Hexenschuss: Tapes verkürzten Leidenszeit
Immerhin: 2008 konnte der deutsche Arzt Willem Evermann zeigen, dass ein Kinesio-Tape bei Hexenschuss besser wirkte als andere Therapien. Patienten mit Hexenschuss hatten schon nach knapp 2,5 Tagen keine Beschwerden mehr, wenn sie mit KinesioTapes behandelt wurden. Die Patienten der Kontrollgruppe behandelte man mit Schmerzmitteln sowie Wärme- und Kältetherapie. Zusätzlich mussten sie sich schonen. Doch sie waren erst nach knapp 10 Tagen wieder fit.
Auch bei Nacken- oder Knieschmerzen sowie bei einer entzündeten Sehne am Unterschenkel waren die Patienten mit dem Tape viel rascher fit. Evermann veröffentlichte seine Arbeit im Fachblatt «Komplementäre und integrative Medizin».
In der Praxis geniessen Kinesio- Tapes einen guten Ruf, wie Physiotherapeutin Sarah Beyeler von der Universitätsklinik Balgrist Movemed in Zürich sagt: «Wir beobachten, dass die Tapes den Patienten helfen.» Viele Patienten kleben sie sich selber, nachdem sie von ihr instruiert worden sind. «Mit einfachen Techniken kann man Schmerzen bei einem Hallux lindern oder das Sprunggelenk stützen.» Ausserdem könne man keinen Schaden anrichten. Beyeler: «Wenn die Tapes nicht innerhalb einer Stunde wirken, entfernt man sie einfach wieder.»
Sarah Beyeler hat für die Gesundheitstipp-Leserinnen und -Leser acht einfache Anleitungen zusammengestellt, wie man bei Beschwerden an Rücken, Nacken und Gelenken die Tapes anwendet.
Wichtig sei die Wahl des Tapes. Dies sagt Physiotherapeut Stephan Mogel aus Neuenhof AG, der Kinesio-Taping-Kurse leitet. Ein echtes Tape besteht nur aus Baumwolle und Acrylamid und ist auf der Klebeseite nicht vollständig, sondern wellenförmig mit Kleber versehen. Kinesio-Tapes gibts in Apotheken.
Wichtig: Bänder mit Nylon, Latex oder Polyester können Hautausschläge hervorrufen. Sogar das Acrylamid des Kinesio-Tapes kann die Haut reizen, wie Zehnkämpfer Basile Schneider weiss: «Ich warte jeweils ein paar Tage, damit sich die Haut erholt, bevor ich neue Bänder klebe.» Welche Farbe man wählt, ist übrigens egal.
Vorsicht: Nicht immer sind Kinesio-Tapes eine gute Lösung. Bei chronischen Schmerzen, Hautkrankheiten, Krampfadern, Ödemen wegen Herzproblemen oder offenen Wunden sind Tapes tabu. Und wenn ein Knochen gebrochen oder ein Band gerissen ist, bringt ein Tape überhaupt nichts – diese Beschwerden müssen konventionell behandelt werden.