Es war im August 2013. Kim Gallagher hatte Riesenkrach mit ihrem Ex-Partner. Die beiden trugen ihn im aargauischen Frick auf der Strasse aus. «Ich habe meinen Ex-Partner angeschrien», sagt die 31-Jährige. Später fiel sie auf, weil sie im Nachbardorf Hornussen magische Zeichen auf eine Strasseninsel zeichnete. Anwohner fühlten sich gestört und riefen die Polizei. Diese zog einen Notfallpsychiater bei, der die junge Frau gegen ihren Willen in die Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel einliefern liess.
Ärzte sowie die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) dürfen psychisch kranke Menschen zwangsweise in psychiatrische Kliniken einweisen, «wenn die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann». Das steht im Artikel 426 des neuen Erwachsenenschutzrechts. Sogar wenn jemand freiwillig in eine Klinik eintritt, dürfen die Ärzte eine Person drei Tage zurückbehalten. Und zwar dann, «wenn sie sich selbst an Leib und Leben gefährdet oder das Leben oder die körperliche Integrität Dritter ernsthaft gefährdet». Doch ob das bei Gallagher zutraf, ist nicht klar. Sie sagt: «Ich habe niemandem etwas zuleide getan.»
Eine Studie zeigt: Die Schweiz gehört zu denjenigen Ländern in Europa, die am meisten Patienten gegen ihren Willen in die Psychiatrie schicken. Das neue Erwachsenenschutzrecht ist seit zwei Jahren in Kraft und hat daran nichts geändert.
Eine Auswertung des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums zeigt: 2013 wurden laut Statistik rund 8700 fürsorgerische Unterbringungen verhängt – das sind 1500 mehr als zehn Jahre zuvor. Die Zahl könnte sogar noch viel höher sein, denn die Ärzte sind nicht verpflichtet, die Zwangseinweisungen zu melden. In einigen Kantonen kann jeder Hausarzt eine fürsorgerische Unterbringung veranlassen, so zum Beispiel im Kanton Zürich. Der Winterthurer Rechtsanwalt Jürg Gassmann kritisiert, viele dieser Ärzte hätten zu wenig psychiatrische Erfahrung.
Nachdem Kim Gallagher in die Klinik gebracht worden war, ging der Albtraum weiter. Die Ärzte stellten eine Psychose fest. Doch das war falsch, urteilt heute der Basler Psychiater Piet Westdijk: Kim Gallagher habe an einer Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung gelitten.
Die Frau weigerte sich in der Klinik, die starken Medikamente zu schlucken – daraufhin wurden ihr die Mittel gespritzt. Diese hätten ihr nicht gut getan, sagt Gallagher: «Ich lief wie ein Zombie herum und war ständig müde. Und ich nahm 30 Kilo zu.» Laut Klinikbericht führten die Medikamente auch dazu, dass sie stark an Bewegungsdrang litt. Zeitweise sperrten Ärzte sie in ein Isolationszimmer. «Das war besonders schlimm – ich bekam Panik», sagt Gallagher. Im Isolationszimmer hätten ihr die Pfleger manchmal kein Wasser gegeben, obwohl sie Durst hatte. Deshalb musste sie notgedrungen Wasser aus dem WC trinken.
«Zwangsbehandlung war nicht nötig»
Das neue Erwachsenenschutzrecht erlaubt Zwangsbehandlungen, wie Kim Gallagher sie erlebte. Laut Artikel 434 dürfen Psychiater medizinische Massnahmen auch ohne Zustimmung der betroffenen Person anordnen. Dies, wenn «keine Massnahme zur Verfügung steht, die weniger einschneidend ist», und Patienten sich selbst oder andere gefährden.
Nach drei Monaten durfte Gallagher die Klinik verlassen. Seither wird sie vom Basler Psychiater Piet Westdijk betreut. Er ist überzeugt: «Die Zwangsbehandlung war nicht nötig.» Sie habe mehr geschadet als genützt: «Dadurch fühlte sich Kim Gallagher bedroht und die Situation eskalierte.» Das hätte man vermeiden können, wenn die Ärzte der Patientin mehr Verständnis entgegengebracht hätten, sagt Westdijk.
Die Zürcher Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle kritisiert: Es sei nicht klar, ab wann jemand gegen seinen Willen behandelt werden dürfe: «Es gibt keine verbindlichen Regeln. Deshalb entscheiden Ärzte und Kesb manchmal strenger oder dann liberaler.» Zudem habe es einen grossen Einfluss auf die Zahl der Zwangsmassnahmen, ob eine Klinik genügend Angestellte hat: «Man hat dann mehr Zeit für die einzelnen Patienten und kann mit ihnen zusammen nach Möglichkeiten suchen, die Situation zu beruhigen», sagt Ethikerin Baumann-Hölzle.
Im neuen Gesetz steht auch, Psychiatriepatienten könnten in einer Patientenverfügung festhalten, welche Behandlungen sie ablehnen. Allerdings sei die Verfügung weniger verbindlich als bei körperlichen Krankheiten, sagt Rechtsanwalt Gassmann. Wenn eine Klinik Patienten gegen ihren Willen behandelt, muss sie die Verfügung nur befolgen, wenn sie dem Ziel der Behandlung nicht widerspricht. «Manche Psychiater tendieren leider dazu, die Patientenverfügung als unverbindlich zu betrachten», kritisiert Gassmann. So war es auch bei Kim Gallagher: Per Verfügung hatte sie verboten, dass man ihr gegen ihren Willen Medikamente verabreicht. Dennoch bekam sie die Mittel zwangsweise.
Heute geht es Kim Gallagher viel besser. Sie hat eine eigene Wohnung im Wohnheim@home in Kleinbasel. «Ich brauche fast keine Medikamente mehr», freut sie sich.
Die Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel schreiben in einer Stellungnahme, sie würden die fürsorgerische Unterbringung mit grösster Gewissenhaftigkeit erfüllen. Die Zwangsbehandlung werde aufgehoben, sobald ein Patient sich oder andere Personen nicht mehr gefährde. Zur Behandlung von Kim Gallagher äusserte sich die Klinik nicht.
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Psychiatriepatienten: So können Sie sich wehren
Wenden Sie sich an eine Beratungsstelle für Psychiatriepatienten, wenn Sie oder Angehörige zwangsweise in eine Klinik gebracht werden.
- Wenn Sie mit der Einweisung in eine Klinik nicht einverstanden sind, können Sie innert zehn Tagen einen Rekurs einreichen. Das Vorgehen wird erläutert unter www.zopph.ch/Zwang.
- Verhalten Sie sich in der Klinik kooperativ. Verzichten Sie auf Drohungen – die Ärzte können das zum Anlass nehmen, die Zwangsbehand- lung fortzusetzen.
- Halten Sie in einer Patientenverfügung fest, welche Behandlungen Sie ablehnen. Ein Muster finden Sie unter Promentesana.ch/Selbsthilfe/Werkzeuge/Psychiatrische Patientenverfügung.
- Psychiatriepatienten dürfen eine Vertrauensperson mit Vollmacht bestimmen.
Folgende Organisationen helfen Psychiatriepatienten: