Im Stich gelassen mit dem Unfallschock
Bei Katastrophen wie dem Gotthard-Tunnelbrand oder dem Flugzeugabsturz in Überlingen wird sofort für psychologische Betreuung gesorgt. Bei schweren Verkehrsunfällen hingegen bleiben Betroffene und ihre Angehörigen auf der Strecke.
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Gesundheitstipp 6/2004
09.06.2004
Gabriela Braun - gbraun@pulstipp.ch
Der Verlust von Julia und die Trauer um sie waren schlimmer als jeder körperliche Schmerz», erinnert sich Monika Gfeller an die schwerste Zeit ihres Lebens. «Es riss mir den Boden unter den Füssen weg. Ich konnte nicht fassen, dass meine kleine Julia nicht mehr am Leben war.» Die Mutter weinte während Stunden, Tagen, Wochen. «Ich stand unter einem Schock und kam psychisch völlig an meine Grenzen», erzählt die Frau aus Schwarzenburg BE.
Es geschah an einem sonnigen Tag im...
Der Verlust von Julia und die Trauer um sie waren schlimmer als jeder körperliche Schmerz», erinnert sich Monika Gfeller an die schwerste Zeit ihres Lebens. «Es riss mir den Boden unter den Füssen weg. Ich konnte nicht fassen, dass meine kleine Julia nicht mehr am Leben war.» Die Mutter weinte während Stunden, Tagen, Wochen. «Ich stand unter einem Schock und kam psychisch völlig an meine Grenzen», erzählt die Frau aus Schwarzenburg BE.
Es geschah an einem sonnigen Tag im Oktober: Monika Gfeller geht mit ihren Töchtern Julia, 3, und Janina, 1, über den Fussgängerstreifen. Die Autos warten. Als sich Monika Gfeller bückt, um die gestürzte Janina aufzuheben, läuft Julia ein paar Schritte weiter. Dann ein höllischer Lärm. Ein Auto überrollt Julia. Einmal, zweimal - der Horror scheint nicht aufzuhören. «Der Fahrer hat von all dem nichts bemerkt», erzählt sie noch heute fassungslos. Ihre Tochter war auf der Stelle tot. Mittlerweile ist die Katastrophe fast zehn Jahre her - Julia wäre heute ein Teenager.
Oft sind Unfallmeldungen nur ein paar Zeilen lang, doch die Tragik, die sich dahinter versteckt, ist immens. 549 Menschen starben letztes Jahr bei Verkehrsunfällen, 26 000 verletzten sich. Medizinisch wurden sie alle notfallmässig betreut. Den wenigsten Opfern und Angehörigen stand aber in den ersten Stunden nach dem Unglück ein Seelsorger oder eine Psychologin zur Seite.
Kaum jemand kümmert sich um die Opfer alltäglicher Unglücke. Dabei ist längst klar, dass eine seelische Nothilfe nach einem traumatisierenden Erlebnis notwendig ist. Peter Fässler, Familientherapeut aus Winterthur: «Je schneller professionelle Hilfe vor Ort ist, desto besser.» Dies gelte sowohl für die medizinische Hilfe als auch für die seelische. «Wir müssen unmittelbar in der Krise für die Opfer oder Angehörigen da sein.»
Bei einer grossen Katastrophe ist eine sofortige psychologische Betreuung der Opfer, Angehörigen und Helfer längst normal. So etwa beim Attentat von Zug, den Flugzeugabstürzen von Überlingen und Halifax oder dem Gotthard-Tunnelbrand: Notfallpsychologen und Seelsorger standen den Opfern, Angehörigen und Rettungskräften in den ersten schweren Stunden nach der Katastrophe zur Seite.
Betroffene sind mit ihren Traumata meist allein
Nicht so beim ganz normalen Wahnsinn im Alltag. Dort gibt es meist keine seelische Hilfe nach einem Unglück. Dabei kann ein Verkehrsunfall für die Angehörigen ebenso traumatisch sein wie ein schweres Eisenbahnunglück oder eine andere grosse Katastrophe.
Doch weder Bund, Kantone noch Gemeinden sind heute im Stande, eine seelische Soforthilfe anzubieten. Betroffene müssen mit ihren Traumata alleine fertig werden - mit erhöhter Aggression, Depressionen, Angststörungen, Schlaf- oder Konzentrationsstörungen. Gemäss einer österreichischen Studie aus den Achtzigerjahren leidet fast jeder dritte Beteiligte eines Strassenverkehrsunfalls an einer psychischen Störung, wenn er kurz nach dem Unfall keine psychologische Betreuung erhalten hat.
Seit zwanzig Jahren betreut Peter Fässler als einer der wenigen in der Schweiz Angehörige und Opfer von Verkehrsunfällen, Suizidversuchen oder etwa Verbrechen - unmittelbar nachdem das Unglück geschehen ist. Der Therapeut hilft den Angehörigen etwa, die Schreckensnachricht an Verwandte und Freunde zu überbringen. Oder er steht ihnen bei, wenn es darum geht, die Leiche eines Angehörigen nach Hause zu holen, um sich vom Verstorbenen verabschieden können. Wie lange ihn die Menschen benötigen, ist unterschiedlich. Durchschnittlich seien es etwa fünf Stunden. «Es kann aber auch sein, dass ich nur eine Stunde gebraucht werde», so Peter Fässler. Mit seiner Stiftung «Leid und Trauer» leistet er vorwiegend in der Region Zürich und Winterthur Nothilfe.
Die Polizei wäre bei einem Hilfe-Konzept das Bindeglied
Hilfe, wie sie Peter Fässler leistet, ist in vielen Kantonen Zukunftsmusik. Roland Wiederkehr, Ex-Nationalrat und Präsident der Opferhilfevereinigung Road Cross, klagt an: «In der Schweiz fühlt sich niemand für diese Arbeit zuständig. Dabei können die psychischen Schäden nach traumatisierenden Erlebnissen riesig sein.» Sein Ziel ist es, für die Schweiz eine kantonal vernetzte Nothilfe zu schaffen. Betreuerinnen und Betreuer müssten dann zur Stelle sein, wenn die Betroffenen dies verlangen. Die Polizei wäre dabei ein wichtiges Bindeglied. Sie müsste den Opfern oder Angehörigen sofort eine seelische Betreuung anbieten und daraufhin die bereitstehenden Helfer alarmieren. Das Konzept ist auf Freiwilligenarbeit aufgebaut, und die Mitarbeiter - Ärzte, Krankenschwestern, Psychologinnen oder Sozialarbeiter - würden für ihre Aufgabe speziell ausgebildet.
Opfer wünschen sich psychologische Notfallhilfe
Nach dem katastrophenreichen Jahr 2001 - Gotthardbrand, Crossair-Absturz, Attentat in Zug - entschied sich der Bund, die Ausbildung von Nothelfern voranzutreiben: Das «Nationale Netzwerk für psychologische Nothilfe» wurde gegründet. Doch: Die speziell ausgebildeten Fachleute sollen ausschliesslich bei Grosskatastrophen eingesetzt werden und kommen deshalb kaum zum Einsatz. Die so wichtige Erfahrung fehlt.
Beim grossen Verkehrsprojekt, das der Bund ausgearbeitet hat, «Vision Zero», fand die seelische Betreuung von Opfern der Strasse zunächst keine Beachtung. Der Bericht behandelt in über hundert Punkten, wie die Schweizer Strassen sicherer gemacht werden sollen. Erst nach massiver Intervention von Fachleuten sind jetzt die Behörden bereit, auch über eine seelische Nothilfe zu diskutieren.
Eine solche Nothilfe hätte sich auch Monika Gfeller kurz nach dem Unfall gewünscht. Sie wäre froh gewesen, hätte sich jemand in den ersten Stunden nach dem Tod von Julia um sie und ihre Familie gekümmert. «Das wäre eine echte Hilfe gewesen.»
Der Fehler, vom Toten nicht Abschied zu nehmen
Genauso Ivo Meier: Der Familienvater aus Littau LU hat seinen Bruder vor 15 Jahren bei einem Autounfall verloren. Im Nachhinein denkt er, hätte ihm damals eine Nothilfe für die Seele viel genützt. «Ich war in den ersten Stunden völlig überaktiv. Wir mussten etliche Entscheide treffen, wie etwa jenen einer Organspende.» Die Trauerabeit stand im Hintergrund - von seinem Bruder konnte er nicht einmal Abschied nehmen. «Im Spital rieten sie uns davon ab, ihn nochmals zu sehen. Wir sollten ihn lieber in guter und schöner Erinnerung behalten.» Ein Fehler, wie er heute weiss. Eine Fachperson hätte ihn aufklären können, wie wichtig das Abschiednehmen ist.
Monika Gfellers Schmerz ist in den letzten zehn Jahren kleiner geworden. «Der Schmerz lässt nach», sagt die fünffache Mutter. Den Tod von Julia hat sie bis heute nicht ganz überwunden. Sie und ihr Mann treffen sich einmal monatlich in einer Selbsthilfegruppe in Thun mit anderen Eltern, die ein Kind verloren haben. In der Trauer und dem Schmerz sieht sie heute auch Aspekte, an denen sie reifen konnte. «Das Verarbeiten hat enorme Kräfte freigesetzt. Das ist gut so, denn ich wollte nicht verbittert werden.» Mühe machen ihr und ihrem Mann bestimmte Tage - wie etwa Julias Geburts- und Todestag. Am Geburtstag bäckt die Familie immer einen Kuchen. «An diesem Tag denken wir alle besonders fest an Julia», so die Mutter. «Ich stelle mir dann vor, wie ich sie in die Arme nehme.»
Was tun nach einem tödlichen Unfall?
- Nehmen Sie sich das Recht, den Leichnam des verstorbenen Familienmitglieds für mindestens einen Tag mit nach Hause zu nehmen. So können Sie in Ruhe von der Person Abschied nehmen.
- Seien Sie tolerant gegenüber unterschiedlichem Umgang mit Trauer. Sie wird ganz verschieden erlebt und ausgelebt.
- Scheuen Sie sich nicht, professionelle Hilfe anzunehmen.
- Für das Umfeld der Angehörigen: Bieten Sie praktische Hilfe an wie Essen kochen oder Kinder hüten.
Kontaktstellen:
- Opferhilfevereinigung Road Cross, Zürich, Tel. 01 310 13 11, E-Mail: info@roadcross.ch
- Stiftung für Begleitung in Leid und Trauer, Winterthur, Tel. 052 269 02 12, Internet: www. leidundtrauer.ch
- Vereinigung für Familien der Strassenopfer VfS, Tel. 01 310 13 13
- kantonale Opferhilfen
- Die dargebotene Hand, Tel. 143 für Erwachsene, Tel. 147 für Kinder
«Wir müssen unmittelbar in der Krise für die Angehörigen da sein»
Peter Fässler, Familientherapeut
«Die psychischen Schäden nach traumatisierenden Erlebnissen können riesig sein»
Roland Wiederkehr, Road Cross
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