Wenn Psychiater aus der ganzen Welt eine Diagnose stellen, berufen sie sich auf ein umfängliches Buch: das DSM, ausgeschrieben «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders», 1300 Seiten dick. Ein Gremium von Psychiatern der US-amerikanischen Fachgesellschaft überarbeitet das DSM alle paar Jahre – und jedes Mal kommen neue und oft umstrittene Diagnosen dazu. Die neueste Version heisst DSM-5-TR und stammt aus dem Jahr 2022.
Psychiater erhielten im Durchschnitt 85'000 Franken
Jetzt zeigt sich: Viele Psychiater aus dem DSM-5-TR-Gremium erhielten von der Pharmaindustrie exorbitant hohe Geldbeträge. Das zeigt eine Studie, die das Fachblatt «British Medical Journal» in diesem Frühling veröffentlichte. Total über 14 Millionen Franken flossen allein zwischen 2016 und 2019 von der Pharmaindustrie an 55 Psychiater, die am Diagnosekatalog mitgearbeitet hatten. Im Durchschnitt sind das 85'000 Franken pro Jahr und Psychiater. Offizieller Grund für die Honorare: Mitwirken an Medikamentenstudien, Vorträge oder Beratungen.
Forscher konnten diese Zahlungen aufdecken, weil US-Psychiater seit einigen Jahren ihre Einkünfte von der Industrie auf der Plattform «Open Payments» deklarieren müssen. Auch Etzel Gysling, Arzt und Herausgeber der Fachzeitschrift «Pharma-Kritik», spricht von «enormen Zahlungen». Er sagt: «Vor ein paar Jahren hatte man das Gefühl, es käme da zu einer Mässigung. Doch das ist offenbar nicht der Fall.» Bereits das Gremium für die erste Fassung der Ausgabe von DSM-5 kam deswegen im Jahr 2013 in Kritik.
Untersuchungen hatten gezeigt, dass sechs von zehn Psychiatern aus dem Gremium von der Pharmaindustrie Geld erhalten hatten («Saldo» 12/2014). Wie viel, war damals noch unklar. Der Geldfluss hat einen handfesten Grund: Jede neue Diagnose ist für die Industrie ein lukratives Geschäft, um weltweit Psychomedikamente zu verkaufen. Beispiele: Das DSM-5 definierte neu die Diagnose «mangelndes sexuelles Verlangen der Frau».
Wenig später brachte die Firma Sprout Pharmaceutical in den USA die Sexpille Addiy mit dem Wirkstoff Filibanserin für Frauen auf den Markt. In der Schweiz ist das Mittel nicht zugelassen.
Längere Trauerphase gilt als Depression
Gemäss DSM-5 war es auch neu, dass eine längere Trauerphase als Depression gilt. Psychiater sollten diese nun mit Medikamenten behandeln – ein Riesengeschäft für Hersteller von Antidepressiva. Eine neue Diagnose war auch Agaraphobie, die Angst vor Situationen, bei denen es kein Entrinnen gibt. Sie kann in Zügen auftreten, die im Tunnel stehen bleiben, oder in Flugzeugen, die auf der Startbahn warten müssen. Auch in diesem Fall lautet die Lösung der Industrie: Antidepressiva.
In der Schweiz arbeiten Ärzte ebenfalls Hand in Hand mit der Pharmaindustrie (Gesundheitstipp 4/2024). Experten des deutschen Fachblatts «Arzneimittelbrief» fordern in der neusten Ausgabe eine Obergrenze für solche Honorare. Zudem sollen von der Industrie bezahlte Ärzte an offiziellen Fortbildungen keine Vorträge mehr halten dürfen. Das sieht Arzt Etzel Gysling genauso.