Kinder ärzte - Forscher wider Willen
Inhalt
Gesundheitstipp 2/2000
01.02.2000
Hersteller testen Medikamente meist nur an Erwachsenen - doch Kinder reagieren häufig anders
Der kleine Manuel hatte Glück. Ärzte konnten ein gefährliches Blutgerinnsel auflösen. Dies, obwohl es mit dem Medikament kaum Erfahrungen bei Neugeborenen gab. Pharmafirmen scheuen die aufwendigen Tests an Kindern.
Kaum war er auf der Welt, sorgte Manuel bereits für grosse Aufregung im Spital. Vier Stunden nach der Geburt war sein linkes Ärmchen ganz weiss - völlig b...
Hersteller testen Medikamente meist nur an Erwachsenen - doch Kinder reagieren häufig anders
Der kleine Manuel hatte Glück. Ärzte konnten ein gefährliches Blutgerinnsel auflösen. Dies, obwohl es mit dem Medikament kaum Erfahrungen bei Neugeborenen gab. Pharmafirmen scheuen die aufwendigen Tests an Kindern.
Kaum war er auf der Welt, sorgte Manuel bereits für grosse Aufregung im Spital. Vier Stunden nach der Geburt war sein linkes Ärmchen ganz weiss - völlig blutleer und ohne Puls.
Auf dem Röntgenbild konnten die Ärzte erkennen, dass ein Blutgerinnsel die grosse Arm-Arterie verstopfte. «Der Arm war akut bedroht», sagt Gregor Schubiger, Chefarzt am Kinderspital Luzern. Blutgerinnsel (Thrombosen) kommen bei Erwachsenen oft vor. Moderne Medikamente können sie aber häufig rechtzeitig auflösen. Solche Thrombolysen sind etwa bei Herzinfarkt Standardtherapie. «In der Kindermedizin sind diese Medikamente aber völlig unbekannt», sagt Gregor Schubiger. Die Ärzte in Luzern wussten nicht, ob sie das Mittel auch bei Neugeborenen so einsetzen könnten, dass es möglichst keine Nebenwirkungen hat.
Doch es gab keine Wahl, sie mussten sofort handeln. Vorsichtig schätzten sie die Menge ab und überwachten Manuel sorgfältig. Das Wagnis gelang: Nach zwölf Stunden war die Thrombose aufgelöst, der kleine Arm wieder rosig und warm. Manuel hatte Glück. Er hätte auch ganz anders auf das Mittel reagieren können. Kinderspezialisten müssen ihren Patienten täglich Arzneien nach Gutdünken oder eigenen Erfahrungen verordnen. «Die meisten Medikamente sind nur an Männern zwischen 20 und 60 untersucht», sagt Etzel Gysling, Herausgeber der Fachzeitschrift «Pharma-Kritik». Kinder bekommen jedoch oft die gleichen Krankheiten.
Eine Studie, die kürzlich im «British Medical Journal» erschien, zeigt das Ausmass des Problems: Zwei Drittel der kleinen Patienten in fünf europäischen Kinderkliniken erhielten mindestens ein Medikament, das entweder nicht für ihre Altersgruppe zugelassen war oder aber in abgewandelter Form verabreicht wurde. «Nicht verwunderlich, dass es manchmal zu unvorhersehbaren Nebenwirkungen kommt oder aber dass Behandlungen gar nicht wirken», sagt Professor Hannsjörg Seyberth, Präsident der deutschen Kinderärzte-Gesellschaft und Mitautor der Studie.
Angaben für Kinder nur bei jedem fünften Medikament
Seyberth hat gezeigt, dass nur jedes fünfte in Deutschland zugelassene Medikament auch an Kindern genügend geprüft ist. In der Schweiz ist das nicht viel anders. Die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA hat sogar eine Liste mit etwa 450 Medikamenten veröffentlicht, für die genauere Angaben erwünscht wären. Darunter sind verbreitete Medikamente gegen Viren, Allergien, starke Schmerzen, Magen-Darm-Probleme, Atemwegskrankheiten oder Mittelohrentzündungen.
Einfach die Dosis von Erwachsenen herunterzurechnen geht eben nicht. «Vor allem Neugeborene und Säuglinge reagieren oft völlig anders als erwartet», sagt David Nadal, Infektiologe und Leitender Arzt am Zürcher Kinderspital.
So brauchen Neugeborene und Frühgeborene im Verhältnis zum Körpergewicht meist viel tiefere Dosen, weil ihre unreifen Organe die Substanzen noch nicht so schnell ausscheiden. Dagegen überholt der Stoffwechsel einige Wochen später jenen von Erwachsenen. Die Folge: Damit ein Medikament wirkt, muss man es in kleineren Abständen und höheren Dosen geben. So kann bei Antibiotika - im Verhältnis zu Erwachsenen - die zwölffache Menge nötig sein.
Dies sind jedoch nur grobe Anhaltspunkte. «Wie Säuglinge Substanzen aufnehmen, verarbeiten und ausscheiden, ist von Medikament zu Medikament verschieden», sagt Kinderinfektiologe David Nadal. «Voraussehen kann man das nicht.» Manche Mittel haben zudem eine sehr enge therapeutische Bandbreite. Das heisst: Die wirksame Menge ist nur wenig kleiner als die giftige. Viele Arzneien sind aber in grossen Tabletten oder anderen ungeeigneten Formen auf dem Markt. Ist eine tiefere Dosis nötig, muss man die Pillen zerbrechen. Der Wirkstoffgehalt in den Bröseln ist kaum zu bestimmen.
In der Vergangenheit gab es einige Fälle, in denen Kinder schwer zu Schaden kamen. So verursachten Anthrazykline bei krebskranken Kindern Jahre später Herzmuskelschäden. Und bei Säuglingen trat das lebensgefährliche Gray-Baby- Syndrom auf, weil die Dosis eines nur an Erwachsenen erprobten Antibiotikums falsch abgeleitet war.
Zwar setzen Kinderärzte viele bewährte Mittel dank langjähriger Erfahrung richtig ein. Trotzdem fordern sie weltweit, dass die Firmen für Medikamente, die bei Säuglingen und Kindern in Frage kommen, verlässliche Angaben liefern. Den Vermerk «für Kinder unter 12 Jahren liegen keine Daten vor», wollen sie nicht länger hinnehmen.
Ärzte müssen Erfahrungen selber erarbeiten
In manchen Gebieten der Medizin fühlen sich die Ärzte besonders allein gelassen:
- Neonatologie: Neugeborene sind am schlechtesten geschützt. Fast keine Arzneien sind für sie untersucht. Ärzte behelfen sich meist, indem sie den Wirkstoff im Blut messen.
- Aids: HIV-positive Erwachsene erhalten heute gut untersuchte Medikamente. Kinderärzte dagegen müssen sich ihre Erfahrungen grösstenteils selber erarbeiten. «Wir haben jetzt eine Studie mit sieben anderen Kinderkliniken initiiert», sagt David Nadal vom Zürcher Uni-Kinderspital.
- Krebs: Auch Mittel gegen Krebskrankheiten sind fast nur an Erwachsenen getestet. Mittlerweile laufen einige internationale Studien - meist von Kinderspitälern angeregt.
- Asthma: Viele gute Asthmamittel sind nicht an Kindern unter 12 Jahren getestet. Klein- und Schulkinder haben aber häufig Asthma.
- Infektionen: Neue Antibiotika sind oft nur an Erwachsenen getestet. Immerhin gibt es da genug Ausweichmöglichkeiten. «Unsere Antibiotika der ersten Wahl sind seit 20 Jahren die gleichen», sagt Gregor Schubiger vom Kinderspital Luzern.
Zahlreiche Kinderärzte in der Schweiz reagieren auf die Wissenslücken ähnlich. «Wir geben neue Medikamente nur sehr zurückhaltend ab», sagt Hans Ulrich Bucher, Professor für Neonatologie am Unispital und am Kinderspital Zürich.
Auch Kinderinfektiologe David Nadal sagt: «Ich verordne nicht getestete Medikamente nur im Rahmen einer Studie; da müssen wir hart sein.» Das kann allerdings auch bedeuten, dass Kinder moderne Medikamente, die besser wirken oder besser verträglich sind, nicht erhalten.
So sind neue Mittel gegen Herpes- und Zosterviren, die man schlucken kann, nur an Erwachsenen getestet. Folge: Kinder bekommen immer noch die älteren Mittel, die man über die Vene zuführen muss. «Transplantierte oder krebskranke Kinder, die oft an diesen Viren erkranken, müssen wir deshalb jeweils für sieben bis zehn Tage im Spital behalten», sagt David Nadal.
Oft helfen sich spezialisierte Kliniken selbst: So hat etwa das Berner Kinderspital für wichtige Medikamente Angaben in einem Buch zusammengetragen. Auch die amerikanische Pädiatrie-Gesellschaft hat solche Werke veröffentlicht. Doch diese sind selten auf dem neusten Stand, zudem können die Erfahrungen von Klinik zu Klinik variieren.
Arzneibehörden machen Druck bei Pharmafirmen
Der häufigste Einwand, weshalb die Untersuchungen fehlen: Sie seien ethisch problematisch. Doch mit dieser Begründung machen es sich die Pharmafirmen auch leicht. «Behandeln müssen wir ja trotzdem», sagt Chefarzt Gregor Schubiger. Die Firmen seien an den Studien nicht interessiert, weil sie aufwendig sind.
Für Gerd Glaeske, deutscher Professor für Pharmakologie, ist klar: «Es ist besser, an kleinen Gruppen von Kindern gut kontrolliert zu untersuchen, wie ein Medikament wirkt und verarbeitet wird, als es ohne Grundlagen vielen Kindern abzugeben.»
Mittlerweile haben auch die Arzneibehörden reagiert. Die amerikanische FDA hat vor zwei Jahren neue Richtlinien herausgegeben, die den Pharmafirmen einen längeren Patentschutz gewähren, wenn sie neue Medikamente auch für Kinder prüfen. In der EU laufen ähnliche Bestrebungen.
Und die Schweiz? - «Die IKS ist in der europäischen Arbeitsgruppe integriert», sagt Ruedi Stoller von der Interkantonalen Kontrollstelle für Heilmittel. Studien verlangen kann die IKS nicht. «Wir suchen aber den Dialog mit den Firmen», sagt Stoller.
Diese machen langsam mit. «Wir werden künftig grössere Priorität auf Kinder legen», sagt etwa Jacqueline Wallach, Pressesprecherin von Roche. Weshalb erst jetzt? - «Der Druck der Öffentlichkeit hat zugenommen.»
Anita Baumgartner
Medikamente: Tests für jedes Alter
Je nach Alter reagieren Kinder völlig unterschiedlich auf Medikamente. Hersteller sollten daher alle fraglichen Arzneien in den entsprechenden Altersgruppen untersuchen.
- Frühgeborene: Sie sind besonders empfindlich, da viele ihrer Organe noch nicht reif sind.
- Neugeborene bis 27 Tage: Ihre Leber- und Nierenfunktionen sind noch nicht fertig ausgebildet. Die Nieren scheiden Medikamente langsamer aus, Substanzen gelangen leichter durch die Haut und ins Hirn. Der Körper enthält mehr Wasser, deshalb verteilen sich Medikamente anders.
- Säuglinge und Kleinkinder von 27 Tagen bis 2 Jahren: Das Gehirn und der Körper sind daran, sich zu entwickeln. Medikamente können diese Prozesse stören. Der Stoffwechsel ist erhöht, viele Medikamente scheiden sie schneller aus als Erwachsene.
- Kinder von 2 bis 12 Jahren: In dieser Altersgruppe gibt es grosse Unterschiede, je nachdem wie weit ein Kind entwickelt ist.
- Jugendliche von 12 bis 17 Jahren: Sie wachsen stark, in der Pubertät stellen sich die Hormone um. Medikamente können diese Prozesse beeinflussen.
Zuerst Arzt fragen!
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Und harmlose Medikamente gibt es nicht. Deshalb ist es besonders wichtig, Säuglingen und Kindern nur mit grosser Vorsicht Medikamente zu verabreichen.
- Lassen Sie sich in jedem Fall von der Kinderärztin oder dem Apotheker beraten. Geben Sie nie Medikamente nach eigenem Gutdünken.
- Geben Sie nur vom Arzt für die momentane Krankheit verordnete Medikamente. Verwenden Sie nie solche, die übrig geblieben sind.
- Halten Sie sich genau an die Angaben des Arztes oder des Apothekers, wie häufig, in welcher Menge und wie lange das Kind das Mittel nehmen soll.
- Auch rezeptfreie Medikamente können für Kinder schädlich sein. Lassen Sie sich stets von der Apothekerin oder dem Kinderarzt beraten.
- Dasselbe gilt für pflanzliche Medikamente oder Tees. Huflattich-Tee zum Beispiel ist giftig für die Leber von Säuglingen und Kleinkindern. Pflanzliche und auch homöopathische Mittel enthalten zudem oft Alkohol.