Er tingelt zurzeit von Medium zu Medium: Der Psychiater Erich Seifritz hatte kürzlich einen Auftritt in der TV-Sendung «10vor10», und Ende Januar gab er dem «Tages-Anzeiger» ein ganzseitiges Interview. Seine immerwährende Botschaft: Antidepressiva wirken gut bei Depressionen, die Psychotherapie wirkt im Gegenzug eher weniger.
So lässt er sich im «Tages-Anzeiger» zitieren: «Die Studienlage zeigt eindeutig, dass Antidepressiva auch bei leichten Depressionen wirken.» Sie könnten Suizide verhindern. Und: Der Nutzen der Psychotherapie werde «überschätzt». Im vergangenen September schrieb er zudem in der Medizinzeitschrift «Medical Tribune», die Mittel seien «erwiesenermassen wirksam» und Patienten würden sie gut vertragen. Seifritz ist Direktor der Zürcher Burghölzli-Klinik.
Der Nutzen der Antidepressiva ist klein
Fachleute sind irritiert über solche Aussagen. Denn Studien zeigen seit vielen Jahren: Der Nutzen der Antidepressiva ist klein. Sie verbessern die Stimmung der Patienten kaum mehr als Scheinmedikamente. Zudem erhöhen sie das Suizidrisiko. Der Grund: Sie steigern den Antrieb. Das führt bei manchen Patienten dazu, dass sie Suizidgedanken verwirklichen (Gesundheitstipp 9/2019). Der Basler Psychiater Piet Westdijk bestätigt: «Ich habe mehrmals erlebt, wie ein Antidepressivum einen Patienten in den Suizid getrieben hat.»
Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie empfehlen Antidepressiva bei leichten Depressionen nicht, weil der Nutzen nicht bewiesen sei. Die Leitlinien gelten auch in der Schweiz als Referenz.
Der deutsche Depressionsforscher und Buchautor Peter Ansari sagt: «Man sollte Patienten vor Ärzten warnen, die Empfehlungen einer Leitlinie ignorieren.» Der österreichische Psychologe Martin Plöderl sagt: «Ich finde es bedenklich, wenn ein hochrangiger Vertreter der Psychiatrie fachliche Äusserungen tätigt, die man relativ einfach widerlegen kann.»
Es erstaunt nicht, dass Erich Seifritz so eifrig Werbung für die umstrittenen Medikamente und gegen die Psychotherapie macht. Seit Jahren steht er auf der Lohnliste von Pharmafirmen. In den Jahren 2015 bis 2018 erhielt er über 93 000 Franken von Firmen wie Lundbeck und Janssen. Das zeigt die Internetseite Pharmagelder.ch. Laut Angaben der Hersteller erhielt Seifritz das Geld für die Arbeit als Berater und Vortragsredner. Zudem zahlten die Firmen ihm die Teilnahme an Kongressen, Reisen, Übernachtungen in Hotels und Spesen.
Für Peter Ansari ist klar, dass Pharmafirmen für das bezahlte Geld eine Gegenleistung erwarten. «Der Arzt soll ihr Medikament empfehlen.» So berichtete Seifritz im September 2019 in der Ärztezeitschrift «Medical Tribune»: Er habe «sehr gute Erfahrungen bezüglich Wirksamkeit und Verträglichkeit» mit dem Antidepressivum Brintellix des Herstellers Lundbeck gemacht. Die Weltgesundheitsorganisation sieht das anders: Sie warnte kürzlich, das Mittel könne aggressiv machen.
Am Symposium der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression sagte Seifritz im April 2018, Ketamin wirke schnell und gut gegen Depressionen. Die Firma Janssen brachte kürzlich einen Ketamin-Nasenspray auf den Markt. In der Schweiz ist er noch nicht zugelassen. Unabhängige Fachleute warnen, Ketamin könne die Persönlichkeit verändern («Saldo» 8/2017).
Erich Seifritz ist zudem Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression. Auch diese Gesellschaft wirbt für Antidepressiva: Auf ihrer Internetseite schreibt sie, die Mittel hätten wenig Nebenwirkungen und ihr Nutzen sei bewiesen. Kein Wunder: Zu den Sponsoren gehören Lundbeck, Janssen, Mepha oder Servier – alles Pharmafirmen, die im Markt der Antidepressiva mitmischen. Die Gesellschaft erhält viel Geld von den Firmen – über 250 000 Franken in den letzten Jahren. Pikant: Die Gesellschaft, die auch Betroffene über Depressionen und Angst informieren will, nimmt Psychologen und Psychotherapeuten nur als ausserordentliche Mitglieder auf. Sie haben kein Stimmrecht.
Pillen ohne Therapie sind ein «Kunstfehler»
Peter Ansari sagt, es sei für ihn «vollkommen unverständlich», warum die Gesellschaft auf die Erfahrung der Psychologen und Psychotherapeuten verzichtet. Psychotherapie sei am besten dazu geeignet, Rückfälle zu verhindern. Dies hätten langjährige Untersuchungen bewiesen. Psychotherapeuten seien sehr gut ausgebildet und würden ihre Patienten oft besser kennen als Psychiater.
Der Psychologe Peter Schwob, Präsident des Verbandes der Psychotherapeuten beider Basel, sagt gar, das Verschreiben von Medikamenten ohne Psychotherapie sei ein «Kunstfehler».
Erich Seifritz äusserte sich nicht zu den Kritiken.
Buchtipp
Im Ratgeber Das hilft bei Depressionen (91 Seiten) erfahren Sie, was die ersten Anzeichen einer Depression sind und ob man besser auf Medikamente oder Therapien setzen soll. Mit Tipps für Angehörige. Bestellen Sie das Buch auf www.gesundheitstipp.ch.