Alles begann im Juni 2005. Ärzte entdeckten bei Henri Dober (Name geändert), dass er an Darmkrebs litt. Im Operationsaal entfernten sie ein Stück des Dickdarms. Danach benötigte der damals 67-Jährige Medikamente, um den Krebs in Schach zu halten. Die Ärzte schlugen Dober vor, an einer Studie teilzunehmen. Der Basler Pharmakonzern Roche wolle ein neues Medikament testen und Dober eigne sich für die Studie. Der Patient stimmte zu.
Plötzlich weniger Gefühl in Händen und Füssen
Vor der Behandlung musste er eine Einverständniserklärung unterschreiben. Darin hiess es: «Ich weiss, dass eine Versicherung allfällige Schäden abdeckt, die aufgrund der Teilnahme an der Studie entstehen.» Und: «Sollte es im Rahmen der Studie zu einem Schaden kommen, erhalten Sie eine vollständige und umfassende Entschädigung.» Heute weiss Dober: Diese Formulierungen sind weniger wert als das Papier, auf dem sie stehen.
Eine Stiftung führte die Studie im Auftrag von Roche durch. Ärzte teilten die Patienten in drei Gruppen ein: Zwei Gruppen bekamen das neue Roche-Medikament und weitere Mittel, die bereits auf dem Markt waren. Eine Gruppe bekam zum Vergleich nur Medikamente, die bereits zugelassen waren – also ohne das neue Produkt. Roche wollte mittels Studie herausfinden, ob Medikamente zusammen mit ihrem neu entwickelten Präparat besser wirken als ohne.
Die Ärzte teilten Henri Dober in die Vergleichsgruppe ohne das neue Medikament ein. Er bekam unter anderem den Wirkstoff Oxaliplatin. Die Ärzte spritzten ihm die Medikamente mittels Infusion. Zusätzlich musste er regelmässig Tabletten schlucken. 12-mal musste er deswegen ins Unispital Lausanne. Doch nach der zehnten Behandlung spürte Dober plötzlich, dass in Händen und Füssen das Gefühl abnahm. Er war besorgt.
Die Ärzte schlugen ihm vor, die Therapie trotzdem fortzusetzen. Doch die Beschwerden wurden schlimmer: Seine Händen und Füsse waren wie betäubt und begannen schmerzhaft zu brennen. Er ging zu einem Nervenarzt, der schwere Nervenschäden an Händen und Füssen feststellte. Henri Dober wurde depressiv, bekam Medikamente. Auch hatte er nur noch wenig Gefühl in den Fingern.
Experten sind sich einig: Der Wirkstoff Oxaliplatin hat die Beschwerden verursacht.
Henri Dober wollte sich nicht damit abfinden. Er verlangte von Roche eine Entschädigung von 50000 Franken für die Schmerzen und anhaltenden Beschwerden.
Pharmakonzern Roche lehnte Haftung ab
Doch der Pharmakonzern weigerte sich zu zahlen. Dober musste sich einen Anwalt nehmen. Kürzlich hat das Bundesgericht entschieden – und eine Entschädigung abgelehnt. Begründung: Die Schäden seien durch ein Medikament entstanden, das bereits zugelassen war. Die Bundesrichter schrieben, Dober hätte beim Ausfüllen des Formulars wissen müssen, dass Roche einzig für Schäden durch das neue Medikament hafte. Nur: Das war in der Einverständniserklärung nicht explizit erwähnt worden. Übrigens: Den Text im Formular hatten die nationale und auch die kantonalen Ethikkommissionen abgesegnet.
Dobers Anwalt Joël Crettaz hält solche Texte für Bauernfängerei. Es sei bekannt, dass Pharmafirmen Mühe hätten, Patienten für ihre Studien zu finden. «Mit solchen Formulierungen erhöhen sie die Chancen, dass die Patienten mitmachen.»
Für Franziska Sprecher, Assistenzprofessorin für öffentliches Recht an der Universität Bern, ist klar: Die Studienleitung hat den Patienten mangelhaft aufgeklärt. Sie sagt: «Die Formulierung lässt einen Patienten glauben, dass er durch eine Vollkasko-Versicherung vollständig und umfassend gedeckt ist.» Auch die Genfer Uni-Professorin Valérie Junod ist der Meinung, dass die Information für den Patienten unvollständig, wenn nicht falsch war.
Henri Dober leidet heute noch unter den Folgen der Behandlung: Er muss noch immer Antidepressiva nehmen und hat nach wie vor so wenig Gefühl in den Händen, dass er Mühe hat, ein Hemd zuzuknöpfen. Trotzdem möchte er jetzt unter die ganze Sache einen Schlussstrich ziehen und deshalb nicht mehr zitiert werden.
Heute ist die Gesetzeslage klarer, aber für die Patienten nicht besser. Anfang 2014 trat zwar das neue Humanforschungsgesetz in Kraft. Das Institut für Versicherungsmedizin der Universität Basel nahm es kürzlich im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit unter die Lupe.
Das Fazit des Berichts: Die Patienten sind immer noch zu wenig geschützt. In keinem anderen Land gibt es für Pharmaunternehmen wie Roche und andere Studienveranstalter so viele Wege, sich bei Studien aus der Verantwortung zu stehlen. So listet die zugehörige Verordnung mehrere Ausnahmen auf, bei denen Firmen und Institute nicht haften müssen. Zum Beispiel, wenn das Test-Medikament bereits zugelassen ist oder wenn der Patient eine lebensbedrohliche Krankheit hat, für die es keine Standardtherapie gibt. Oder wenn ein vergleichbarer Schaden auch bei einer üblichen Therapie entstanden wäre.
Kommt dazu: Auch die Studienunterlagen für Patienten lassen noch immer viele Fragen offen. So steht in den Musterunterlagen der Schweizerischen Ethikkommission für die Forschung am Menschen der vage Satz: «Die Haftplicht des Sponsors/des Spitals/etc. kommt für allfällige Schäden im Rahmen der Studie auf.» Für Margrit Kessler, Präsidentin der Organisation Patientenschutz SPO, ist das zu wenig klar: «Solange in den Unterlagen nicht genau steht, wann man versichert ist und wann nicht, bleibt nur eines: Gar nicht erst mitmachen an solchen Studien.»
Aufklärungsunterlagen sollen angepasst werden
Roche schreibt, dass die Aufklärungsunterlagen «klar aufzeigen», welche Schäden, die im direkten Zusammenhang mit dem Prüfmedikament stehen, die Versicherung übernehme. Ausserdem könne der Patient beim obligatorischen Gespräch mit dem Prüfarzt Fragen stellen und Einzelheiten zur Versicherung klären.
Swissethics teilt mir, sie werde die Aufklärungsunterlagen anpassen. Neu will sie festhalten, dass die Studienveranstalter für bereits zugelassene Medikamente nicht haften. Im Gesetz bleibt für die Patienten vorerst alles wie gehabt. Bundesrat und Parlament entscheiden frühestens 2019 über eine Revision des Humanforschungsgesetzes. Ob die Haftungsregeln dann patientenfreundlicher werden, ist offen.