Christa Salzmanns Vater litt an Demenz. In einem Pflegeheim erhielt der damals 90-Jährige das Medikament Seroquel. Ärzte verschreiben es häufig Demenzpatienten, die sich unruhig verhalten. «Das Medikament tat meinem Vater nicht gut», sagt Salzmann. «Er brachte keine ganzen Sätze mehr über die Lippen und lachte nicht mehr.» Das ist kein Einzelfall.
Eine Studie des Winterthurer Arztes Max Giger zeigte vor zwei Jahren: Über ein Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner von Schweizer Pflegeheimen bekommt Medikamente wie Seroquel, sogenannte Neuroleptika. Das sind starke Medikamente zur Behandlung von Schizophrenie, die meisten davon sind für die Abgabe an Demenzkranke nicht zugelassen.
Der Zürcher Altersmediziner Albert Wettstein kritisiert, Pflegeheime würden die Medikamente als «billigen Ausweg» bei Personalmangel missbrauchen: Indem sie schwierige Bewohner ruhig stellten, hätten sie weniger Pflegeaufwand. Allerdings ist der Nutzen der Medikamente bescheiden: Oft geht es Demenzkranken auch ohne Medikamente mit der Zeit besser. Das zeigt eine Übersichtsstudie des unabhängigen Forschernetzwerks Cochrane. Psychiater und Pharmafirmen verharmlosen die Risiken der Medikamente.
Eine neue Studie mit 174'000 Demenzpatienten zeigt: Neuroleptika haben mehr schwere Nebenwirkungen, als bisher bekannt war. Dazu gehören Diabetes, starke Gewichtszunahme, Herzkrankheiten und Störungen des Hormonhaushalts. Die Studie erschien im April im Fachblatt «British Medical Journal». Auch die US-Fachzeitschrift «The Medical Letter» warnt: Neuroleptika erhöhen das Risiko für schwere Nebenwirkungen.
Das gilt auch für neuere Mittel, die bisher als besser verträglich galten als ältere. Bei Leponex, Risperdal, Seroquel und Zyprexa ist das Risiko am grössten. Diese Mittel verdoppeln laut dem «Arznei-Telegramm» das Risiko für einen plötzlichen Herztod.
Mittel sind nur sinnvoll, wenn andere Therapien nicht helfen
«Bei älteren Demenzpatienten sollte man zuerst Therapien ohne Medikamente einsetzen», sagt Egemen Savaskan, Direktor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Dazu gehören Musik- und Tiertherapien oder Massagen. Nur bei akuten Psychosen oder wenn Patienten sich selbst und andere gefährden, empfiehlt Savaskan Medikamente. Christa Salzmann fand für ihren Vater einen Platz in einem anderen Heim – im Wohn- und Pflegezentrum Rosengarten in Kleinandelfingen ZH.
Dort setzte das Personal Seroquel sofort ab. «Dies zeigt, dass das Medikament offenbar nicht notwendig war», sagt Salzmann. Im Rosengarten sei ihr Vater bis zu seinem Tod gut betreut worden: «Immer waren Pfleger für ihn da.» Ihr Vater habe den menschlichen Kontakt gebraucht: «Er fand im Rosengarten auch sein Lachen wieder.»
«Medikamente dämpfen lediglich Symptome»
Eigentlich wurden diese Medikamente zur Behandlung von Schizophrenie entwickelt. Allerdings ist auch das umstritten. Der dänische Arzt und Buchautor Peter Gøtzsche kritisiert, die Mittel würden die Krankheit nicht heilen, sondern nur die Symptome dämpfen. Der 21-jährige Sohn von Laura Regli aus Scharans GR leidet an Schizophrenie. In psychiatrischen Kliniken bekam er gegen seinen Willen Haldol, Olanzapin und Zyprexa. «Er sagte mir, diese Medikamente würden ihm kaum helfen», berichtet Laura Regli. «Er höre weiterhin Stimmen.» Zudem habe er stark zugenommen, und seine Persönlichkeit veränderte sich: «Er spürte sich selbst nicht mehr und sprach nur noch wenig.»
Jetzt wünscht sich Laura Regli für ihren Sohn einen Platz in einer therapeutischen Wohngemeinschaft: «Das würde ihm mehr helfen als Medikamente.» Die Mittel Abilify, Latuda, Risperdal, Seroquel und Zyprexa sind auch zugelassen für das Behandeln von Patienten mit einer bipolaren Störung. Früher bezeichnete man dies als «manisch-depressive Krankheit».
Dabei wechseln sich euphorische und depressive Phasen ab. Der 72-jährige Guido Facci ist davon betroffen. Neuroleptika verursachten bei ihm schwere Nebenwirkungen. Vor zwei Jahren erhielt er zusätzlich das Medikament Haldol. Sein Bruder Bruno Facci, CoPräsident des Angehörigen-Vereins Stand By You, erinnert sich: «Guido lag monatelang im Bett, ass und trank nichts und redete nicht mehr. Davon hat er sich bis heute nicht erholt.» Guido Facci kann nicht mehr selbständig gehen oder sich selbst ankleiden.
Die Firma Recordati sagt, ihr Medikament Reagila helfe Schizophreniepatienten, ein möglichst normales Leben zu führen. RexultiHersteller Lundbeck schreibt, sein Mittel habe weniger Nebenwirkungen als andere Neuroleptika. Die Hersteller Otsuka und CPS Cito Pharma sagen, die Heilmittelbehörde Swissmedic habe ihre Medikamente Abilify und Seroquel überprüft und zugelassen.
Anlaufstellen für Betroffene und Angehörige
• Pro Mente Sana Anlaufstelle für Betroffene und Angehörige. Beratungstelefon: 0848 800 858, www.promentesana.ch
• Stand By You Schweiz Vereinigung der Angehörigen und Vertrauten von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Telefon: 044 240 12 00, www.stand-by-you.ch