Wenn Freunde von Matthias Weber (Name geändert) ins Restaurant gehen, bleibt er zu Hause, denn er will unangenehme Fragen vermeiden. Denn: Matthias isst weder Pizza noch Salat, weder Koteletts noch Pasta. Er nimmt überhaupt keine feste Nahrung zu sich. Seit fünf Jahren ernährt er sich nur von flüssigem oder püriertem Essen wie Kartoffelstock, Joghurt und Babynahrung. Der mittlerweile 16-Jährige hat Angst, an fester Nahrung zu ersticken. Woher die Angst kommt, weiss er nicht. Körperlich ist mit ihm alles in Ordnung, auch verschiedene Psychotherapeuten fanden die Ursache nicht.
Angstzustände hat auch Ruth Merçay aus Neu St. Johann SG immer wieder. Bereits als 7-Jährige fürchtete sie sich vor Spinnen – daran hat sich bis heute nichts geändert: «Bin ich mit einer Spinne im gleichen Raum, bekomme ich Panik und mir wird schlecht», sagt sie.
Panikattacken und Ängste können Betroffene stark belasten (siehe Porträts). Merçay etwa sprüht alle sechs Monate das ganze Haus mit Insektenspray ein. So gelangen keine Spinnen ins Innere. Matthias Weber hat Mühe, am sozialen Leben teilzunehmen.
Die Gründe, weshalb eine Angst krankhaft wird, sind nicht immer eindeutig. Eine häufige Ursache ist ein bedrohliches Erlebnis oder ein Trauma, wie es Cindy Herzog aus Lupfig AG vor über 30 Jahren auf einer Italienreise erlebte: «Meine Mutter und ich gingen spazieren, als plötzlich ein Schäferhund aus einem parkierten Auto sprang und zähnefletschend auf uns zurannte. Seither habe ich panische Angst vor Hunden.»
Eltern können Ängste weitergeben
Einen Einfluss kann auch das Zuhause haben: Leiden Eltern an einer Angststörung, kann sie sich auf das Kind übertragen. So war es bei Simon Bendel aus Frauenfeld. Er hat Angst vor dem Fliegen – wie seine Mutter. «Vermutlich habe ich das von ihr übernommen», sagt er. Das bestätigt Psychotherapeutin Katharina Gaudlitz vom Zentrum für Angst und Depressionsbehandlung Zürich: «Ein Kind hat oft vor denselben Dingen Angst wie die Eltern.»
Doch ab wann braucht jemand eine Therapie? Das lasse sich nicht pauschal sagen, so Gaudlitz. Zuerst müsse man abklären, ob man an einer krankhaften Angst leide. Dies ist der Fall, wenn
- eine Person in Panik ausbricht, sobald sie mit dem Angstauslöser konfrontiert wird.
- jemand sein Verhalten so ändert, dass sein Leben stark eingeschränkt ist.
- eine Person unter der Phobie stark leidet.
Gaudlitz: «Eine Therapie ist sinnvoll, wenn der Leidensdruck zu gross wird.» Man dürfe dem, was die Angst auslöst, nicht ausweichen. Am wirkungsvollsten sei deshalb eine Therapie, bei der Betroffene einen veränderten Umgang mit dem Angstauslöser erlernten und dadurch ihre Angst überwinden könnten. Fachleute sprechen von einer Konfrontationstherapie.
Auch Medikamente können helfen. Gesundheitstipp-Ärztin Stefanie Wolff sagt: «Zum Beispiel, wenn die Lebensqualität so beeinträchtigt ist, dass man nicht mehr arbeiten kann.» Bei spezifischen Ängsten, wie der Angst vor Spinnen, seien Medikamente jedoch selten angebracht. Dann empfiehlt Wolff homöopathische oder pflanzliche Heilmittel wie Aconitum napellus, Rescue-Tropfen von Bach, Baldrian, Hopfen oder Passionsblume.
Matthias Weber allerdings hat von Therapien genug: «Ich habe zu viele ausprobiert.» Im Sommer nach der Schule möchte er für drei Monate nach Amerika. Um Englisch zu lernen. «Vielleicht kann ich bis dann ja wieder normal essen», hofft er. «Andernfalls muss ich eine Gastfamilie suchen, die meine Angst versteht.»
«Ich gehe nie allein spazieren – Hunde lösen bei mir Panik aus»
Cindy Herzog (43), Lupfig AG
«Der Hund, der aus dem Auto sprang, hat uns zwar nicht gebissen. Doch der Besitzer reagierte so panisch, dass sich das auf mich übertrug. Meine Angst schränkt mich ein. Ich kann nie alleine spazieren gehen. Sehe ich einen Hund, bekomme ich Atemnot, werde manchmal ohnmächtig. Vor fünf Jahren war ich in einem Kurs gegen Hundephobie. Dort erhielt ich gute Tipps. Das ABC rückwärts aufzählen, um mich abzulenken, wenn ich Hunde sehe, ist einer davon. Ganz verschwunden ist die Angst aber nicht.»
«Ich spraye das gesamte Haus ein – das hält Spinnen fern»
Ruth Merçay (65), Neu St. Johann SG
«Es begann in einer Nacht. Als ich aufwachte und Licht machte, sass eine grosse, schwarze Spinne neben dem Lichtschalter. Ich war wie erstarrt, hatte Angst, dass sie mich anspringt. Seither habe ich eine Art sechster Sinn: Ich spüre eine Spinne im Zimmer, auch wenn ich sie nicht sehe. Einen Kurs gegen Spinnenphobie habe ich nie gemacht, weil ich mit meiner Angst einigermassen gut lebe. Mein Partner und ich besprühen unser Haus alle sechs Monate mit einem speziellen Insektenspray. Das hält die Spinnen fern.»
«Stelle in Australien abgesagt – beim Buchen des Flugs bekam ich Panik»
Simon Bendel (36), Frauenfeld TG
«Gern geflogen bin ich nie. Richtig schlimm wurde die Angst, als ich vor neun Jahren nach Bolivien reiste. Mitten im Flug bekam ich Panik, fing an zu zittern und wollte nur noch raus. Vor einigen Jahren erhielt ich dann ein Stellenangebot in Australien.
Als ich das Flugticket buchen wollte, bekam ich erneut eine Panikattacke und musste die Stelle eine Woche später absagen. Ich habe auch schon ein Seminar gegen Flugangst besucht. Geholfen hat es nicht. Dennoch hoffe ich, dass es irgendwann besser wird.»
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Tipps: Das hilft gegen starke Ängste
- Es sind nicht die Ereignisse, die einen Angstanfall auslösen. Sondern Sie –
- und wie Sie die Ereignisse bewerten.
- Klären Sie ab, woher Ihre Ängste kommen: Auch Depressionen lösen Angstzustände aus.
- Kauen Sie Nüsse oder Kaugummi. Kauen löst Stress, baut Ängste ab.
- Halten Sie den Atem 6 bis 10 Sekunden an, atmen Sie dann langsam aus und wiederholen Sie die Übung.
- Sprechen Sie mit Ihrer Angst: «Hallo, da bist du wieder. Du kannst mir nichts anhaben.» Das schafft Distanz.
- Stellen Sie sich vor, Ihre Angst sei ein Gartenzwerg. Machen Sie ihn gedanklich zu einem Däumling.
- Halten Sie eine Panikattacke einfach aus. Sie werden nicht sterben.
- Hören Sie Musik.
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