Aufrecht stehen und den Rücken nicht krümmen – immer wieder muss ich mich daran erinnern. Denn heute weiss ich: Ich darf mich mit meinen 1,85 Metern in voller Grösse zeigen und muss nicht gegen meinen eigenen Körper arbeiten. In der Oberstufe begann ich, einen Buckel zu machen. Ich versuchte, mich kleiner zu machen. Die Mitschüler hänselten mich wegen meiner Grösse und der zu kurzen Hosen.
«Wie ist die Luft dort oben so?», fragten sie. Damals konnte ich solche Sprüche noch nicht schlagfertig kontern. Mein Selbstwertgefühl litt. Auch heute gibt es wildfremde Leute, die meine Körpergrösse kommentieren.
Sie kommen auf der Strasse auf mich zu und sagen: «Sie sind aber gross!» Ich finde das unhöflich, und es ärgert mich. Man würde ja korpulenteren Menschen auch nicht ungefragt ins Gesicht sagen, wie ihr Körper aussieht. Das gehört sich nicht. Bei grossen Menschen scheint das in Ordnung zu sein. Die Vorteile meiner Grösse zu sehen, hilft mir, meinen Körper anzunehmen: Bei Konzerten oder im Theater habe ich stets freie Sicht auf die Bühne. Ich brauche auch keinen Stuhl, um etwas vom obersten Regalbrett zu holen.
Und ich fühle mich als Frau recht sicher, wenn ich nachts allein unterwegs bin. Mit langen Beinen kommt man schneller voran – und inzwischen finde ich sie sogar schön. Auch meinem jetzigen Partner gefällt meine Grösse. Er ist zwei Zentimeter kleiner als ich. Ich war diejenige, die sich daran gewöhnen musste. Da habe ich gemerkt, dass ich von althergebrachten Bildern der Gesellschaft selbst nicht frei bin: Grosser, starker Mann mit zierlicher Frau – dieses Ideal wird vermittelt.
Heute denke ich anders. Wir müssen nicht ins Klischee passen. Manche alltäglichen Dinge sind trotzdem mühsam. Zum Beispiel muss ich mich bei gesellschaftlichen Anlässen wie Feiern oder Apéros häufig bücken, damit ich die Gespräche um mich herum verstehe. Und wenn mir im Zug jemand gegenübersitzt, drehe ich meine Beine zur Seite, damit alle genug Platz haben.
Das ist unbequem. Auch im Tram, in Autos und Flugzeugen ist es für mich zu eng. Es ist nahezu unmöglich für mich, in normalen Modegeschäften passende Kleider zu finden. Meine Hosen habe ich aus diesem Grund auch schon in einem Spezialgeschäft in Amsterdam gekauft. Im Norden scheint es mehr grosse Leute zu geben. Der Internetshop Zalando hat ebenfalls eine spezielle Linie für grosse Menschen. Mein Rücken und die Schultern schmerzen oft. Deshalb mache ich Krafttraining.
Auch Yoga hilft. Zudem habe ich ein «Gstältli», das meine Schultern aufrichtet. Es ist aber eher unbequem, darum trage ich es selten.
In meinen Hobbys bin ich zum Glück kaum eingeschränkt: Beim Joggen, Wandern, Malen und Lesen stört meine Grösse nicht. Das Kochen in einer Standardküche macht mir allerdings Mühe. Meine Eltern haben bei sich zu Hause extra für mich die Küche umgebaut und die Arbeitsflächen erhöht. Auch normale Büromöbel sind mir zu niedrig. Bei der Arbeit haben wir zum Glück verstellbare Schreibtische.
Grosswüchsig: Ärzte verschreiben oft Hormone
Laut Bundesamt für Statistik sind Schweizer Frauen im Durchschnitt rund 1,65 Meter gross. Jede dreizehnte Frau ist grösser als 1,74 Meter. Viele grosse Menschen haben Probleme mit dem Rücken und den Schultern. Solange der Körper noch wächst, können Ärzte Hormone verschreiben. Diese beschleunigen die Pubertät, wodurch das Wachstum früher aufhört. Nebenwirkungen sind jedoch Zunahme von Gewicht, Unwohlsein und ein erhöhtes Thromboserisiko.
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