Vitaminpillen: Kein Schutz vor Erkältungen
Erkältungen, Herzinfarkt, Krebs - künstliche Vitamine sollen uns vor vielen Krankheiten schützen. Doch jetzt zeigt sich immer deutlicher: Nur die wenigsten nützen etwas.
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Gesundheitstipp 12/2002
01.12.2002
Sonja Marti smarti@pulstipp.ch
Es ist Vorweihnachtszeit: Kälte, Stress, Hektik, die drohende Erkältung. Und es ist die Zeit der Vitaminpräparate. In der Schweiz schluckt jeder Achte täglich künstliche Vitamine. Im Winter sind es bedeutend mehr. Denn die Werbung der Vitaminbranche behauptet, dass künstliche Vitamine gesund, leistungsfähig und ausgeglichen machen und uns vor Krankheiten schützen. «Stärken Sie Ihre Abwehrkraft!», versprechen flotte Werbesprüche, und: «Bleiben Sie gesund!»
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Es ist Vorweihnachtszeit: Kälte, Stress, Hektik, die drohende Erkältung. Und es ist die Zeit der Vitaminpräparate. In der Schweiz schluckt jeder Achte täglich künstliche Vitamine. Im Winter sind es bedeutend mehr. Denn die Werbung der Vitaminbranche behauptet, dass künstliche Vitamine gesund, leistungsfähig und ausgeglichen machen und uns vor Krankheiten schützen. «Stärken Sie Ihre Abwehrkraft!», versprechen flotte Werbesprüche, und: «Bleiben Sie gesund!»
Für 86 Millionen Franken Vitaminpräparate verkauft
Die Hoffnung auf Gesundheit ist für die Vitaminindustrie ein einträgliches Geschäft. Der Umsatz steigt von Jahr zu Jahr. 2001 betrug er in der Schweiz rund 86 Millionen Franken.
Doch wer glaubt, dass künstliche Vitamine einer Erkältung vorbeugen, liegt falsch. Auch dass sie vor anderen Krankheiten schützen, konnte man bisher nicht nachweisen. Das zeigt eine neue Untersuchung aus den USA. Sie vergleicht alle englischsprachigen Vitaminstudien der letzten vierzig Jahre.
Das Resultat: Bewiesen ist gerade mal, dass Vitamin D und Kalzium die Knochendichte erhalten. Und dass Babys von Frauen, die Folsäure nehmen, seltener mit einem offenen Rücken geboren werden.
Heiner C. Bucher, Arzt für innere Medizin und führender Epidemiologe aus Basel: «Zur Zeit gibt es keinen Grund anzunehmen, dass Vitaminpräparate Menschen vor chronischen Krankheiten schützen, sofern sich die Leute ausgewogen ernähren.» Für sinnvoll hält er nur die Osteoporose-Vorsorge nach den Wechseljahren mit Vitamin D und Kalzium.
Doch: Wer im Winter Vitamin C als Schutz vor Grippe und Erkältung schluckt, kann sich das Geld sparen. Ausgewiesene Studien zeigen: Wer täglich künstliches Vitamin C nimmt, ist nicht seltener erkältet als andere. Wer schon krank ist, verkürzt mit Vitamin C die Dauer der Erkältung nur um neun Prozent. Das heisst: Ohne Vitaminpräparat dauert der Schnupfen sieben Tage, mit den Pillen sechseinhalb. Die Dosis des Vitamins spielt dabei keine Rolle.
Auch vor Herzkrankheiten können künstliche Vitamine nicht schützen. Eine englische Studie mit über 20 000 Herzpatienten und Diabetikern konnte keinen präventiven Nutzen von Vitaminpräparaten feststellen. Die Hälfte der Studienteilnehmer bekam täglich 600 Milligramm (mg) Vitamin E, 250 mg Vitamin C und 20 mg Betakarotin. Die andere Gruppe schluckte ein Plazebopräparat ohne Wirkstoff. Resultat: In beiden Gruppen gab es gleich viele Herzinfarkte, Krebskrankheiten und Todesfälle. Und die Patienten, die keine künstlichen Vitamine bekamen, mussten auch nicht häufiger ins Spital.
Vitamine sind nicht nur meistens nutzlos, sie können sogar schaden. Eine neue holländische Studie untersuchte die Wirkung von Multivitamin-Pillen und einem Vitamin-E-Präparat bei über 60-Jährigen. Resultat: Diejenigen, die das Multivitamin-Präparat nahmen, waren genauso oft erkältet wie die Testgruppe, die ein Plazebo erhielt. Das künstliche Vitamin E führte sogar zu einem schwereren Krankheitsverlauf als bei denen, die keine Vitamine nahmen.
Vitamine in hohen Dosen können sogar schaden
Schon frühere Studien zeigten, dass Vitamine in hohen Dosen schaden können. Betakarotin hätte Raucher vor Lungenkrebs schützen sollen. Das Gegenteil ist der Fall. Sie erkranken sogar häufiger. Ähnlich beim Vitamin A: In hohen Dosen verdoppelt es die Anzahl der Hüftbrüche bei Frauen.
«Die Werbung vermittelt uns oft den Eindruck, dass wir alle ständig unter Vitaminmangel leiden», so Carine Buhmann, Puls-Tipp-Ernährungsfachfrau. Das ist aber nicht so. Die Menschen in der Schweiz sind gut mit Vitaminen versorgt. Dies zeigte der letzte Schweizerische Ernährungsbericht von 1998.
Carine Buhmann: «Viele Leute essen nicht ausgewogen, obwohl sie es besser wüssten. Um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, schlucken sie dann Vitamine.» Frauen nehmen häufiger Vitamine als Männer. Und Menschen, die gesundheitsbewusst leben und sich gesund ernähren, häufiger als solche, die nicht auf ihre Gesundheit achten. Carine Buhmann hält das für unnötig: «Gesunde Menschen, die sich ausgewogen ernähren, brauchen keine Vitaminzusätze.»
Auch der Arzt Heiner C. Bucher setzt auf gesundes Essen: «Am besten nach den Grundsätzen der mediterranen Ernährung.» Also wenig tierische Fette, dafür Pasta, Fisch, Olivenöl und vor allem viel frisches Gemüse und Obst.
Spaziergänge und Sauna bringen mehr als Vitaminpillen
Unbestritten ist unter Fachleuten: Eine abwechslungsreiche Ernährung mit viel Obst und Gemüse erhält gesund und beugt Krebs und Herzinfarkt vor. Denn damit ist man nicht nur mit Vitaminen gut versorgt, sondern auch mit vielen weiteren gesunden Pflanzenstoffen.
Selbst im Winter ist gesundes und saisongerechtes Essen kein Problem: Kohl, Broccoli, Sauerkraut und Zitrusfrüchte sind sehr vitaminreich. «Und als Schutz vor Erkältung und Grippe sind regelmässige Spaziergänge oder Saunabesuche viel nützlicher als Multivitamintabletten», so Carine Buhmann.