Robert Kolinsky aus Zürich hat eben ein Lauftraining abgeschlossen. Nun dehnt er auf einer Fussgängerbrücke die Muskeln. Dafür legt er die Ferse eines Beins auf das Geländer und greift mit den Händen nach der Fussspitze. «Wenn ich jetzt meinen Oberkörper nach vorn beuge, spüre ich intensiv die hinteren Oberschenkelmuskeln», sagt Kolinsky. Etwa eine halbe Minute verharrt der 54-Jährige in dieser Position, dann wechselt er das Bein. Er sagt: «Dehnen tut mir gut. Mit meiner Laufgruppe mache ich solche Übungen auch vor dem Sport.»
Viele Hobbysportler dehnen ihre Muskeln vor Trainings. «Mit den Übungen wollen sie sich etwas Gutes tun», sagt der Osteopath und Physiotherapeut Dominik Mayer aus Zürich. Das sei zwar sinnvoll: Wer regelmässig dehne, verbessere die Beweglichkeit. «Doch Dehnen ist nicht gleich Dehnen», sagt der Experte. «Man sollte die richtigen Übungen wählen.»
Statisches Dehnen ist zum Aufwärmen nicht geeignet
Laut Fachleuten gibt es zwei unterschiedliche Arten von Dehnübungen: das statische Dehnen und das dynamische Dehnen (siehe Grafik im PDF). Beim statischen Dehnen verharrt man eine halbe Minute oder länger in der Spannung. Das dynamische Dehnen hingegen besteht aus federnden Bewegungen mit 10 bis 15 Wiederholungen. Experten raten daven ab, zum Aufwärmen statische Dehnübungen zu machen.
Der Sportmediziner Christian Protte von der Eidgenössischen Hochschule für Sport in Magglingen BE sagt: «Beim Aufwärmen sollte man auf solche Übungen verzichten.» Grund: Der Muskel entspannt sich kurzfristig und kann sich anschliessend beim Sport nicht mehr genug anspannen und zusammenziehen. Folge: Die Kraft lässt nach, die Leistung sinkt, und man riskiert Verletzungen. Das Problem mit der sinkenden Muskelspannung belegten Forscher der deutschen Universität Jena in einer grossen Studie.
Dynamisches Dehnen macht die Muskeln beweglich
Besser geeignet zum Aufwärmen sind laut Christian Protte dynamische Dehnübungen: «Sie sind fürs Aufwärmen die erste Wahl.» Beispiel: Man sitzt aufrecht auf dem Boden und drückt die Fusssohlen aneinander. Nun bewegt man die Knie leicht nach unten und lässt sie dann wieder los. «Die Dehnung erfolgt, indem man die Muskulatur langsam an- und entspannt», sagt Physiotherapeut Dominik Mayer. Eine andere dynamische Dehnvariante: Man stellt sich im Stand hüftbreit auf eine Matte und kreist dabei langsam die Hüfte oder die Arme.
Oder man lässt die Dehnbewegung durch eine äussere Kraft erzeugen. «Das ist zum Beispiel möglich, wenn man die Übung an einer Wand macht oder mit der Hand oder einem Fitnessband für die Dehnung sorgt», sagt Dominik Mayer. Ein weiterer Vorteil von dynamischen Dehnübungen: «Sie aktivieren die Muskulatur und die Sehnen innert kurzer Zeit», sagt Sportmediziner Christian Protte. In der Folge wärmen sich die Muskeln auf und werden beweglich.
Das dynamische Dehnen eignet sich nicht nur zum Aufwärmen vor Lauftrainings, sondern auch für Sportarten, bei denen man rasche und kraftvolle Bewegungen macht, etwa beim Fussballspielen oder in der Leichtathletik.
Statische Übungen nützen in der Erholungsphase
Statisches Dehnen hingegen nützt vor allem nach dem Sport. Christian Protte: «Statische Dehnübungen entspannen die Muskeln in der Erholungsphase.» Besonders hilfreich ist das statische Dehnen bei Sportarten wie Gymnastik, Joggen und Nordic Walking. Hinzu kommt: Man kräftigt dadurch die Muskeln und schützt sich so vor Verletzungen. Gut zu wissen: Mit Dehnen lässt sich ein Muskelkater nach sportlichen Aktivitäten nicht verhindern. Das zeigten mehrere Studien (Gesundheitstipp 3/2021). «Trotzdem verbessert richtiges Dehnen das Körpergefühl und das Wohlbefinden», sagt Dominik Mayer.
Tipps: So dehnen Sie richtig
• Dehnen Sie Ihre Muskulatur nur so lange, bis es spannt – nicht bis es schmerzt.
• Führen Sie die Übungen sanft und langsam aus. Machen Sie keine ruckartigen Bewegungen.
• Verzichten Sie aufs Dehnen, wenn Sie Muskelkater haben oder verletzt sind. Das gilt auch, wenn Sie Ihre Muskeln intensiv belastet haben, beispielsweise beim Kraft- oder beim Intervalltraining.
• Atmen Sie beim Dehnen gleichmässig.
Merkblatt «Dehnen von Kopf bis Fuss»
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