Nervenkitzel als Lebenselixier
Es zieht sie immer wieder auf den schmalen Grat zwischen Leben und Tod. Extremsportler suchen den totalen Nervenkitzel - und fühlen sich dabei richtig wohl.
Inhalt
Haus & Garten 3/2005
29.06.2005
Gery Schwager
Das Gefühl sei einfach überwältigend; «ich kann es gar nicht in Worte fassen», strahlt Marco Büchel. Der erfolgreiche Skirennfahrer aus Liechtenstein (FL) schwärmt in den höchsten Tönen von einem Hobby, das Normalsterblichen sofort den Angstschweiss auf die Stirn treibt: vom Basejumping (siehe Seite 13).
Tatsächlich ist es alles andere als ungefährlich, sich mit einem Fallschirm am Rücken von Gebäuden, Sendemasten, Brücken oder Felsen in die Tiefe zu stürzen. Viel Z...
Das Gefühl sei einfach überwältigend; «ich kann es gar nicht in Worte fassen», strahlt Marco Büchel. Der erfolgreiche Skirennfahrer aus Liechtenstein (FL) schwärmt in den höchsten Tönen von einem Hobby, das Normalsterblichen sofort den Angstschweiss auf die Stirn treibt: vom Basejumping (siehe Seite 13).
Tatsächlich ist es alles andere als ungefährlich, sich mit einem Fallschirm am Rücken von Gebäuden, Sendemasten, Brücken oder Felsen in die Tiefe zu stürzen. Viel Zeit bleibt nicht, um die Reissleine zu ziehen. Und der Schirm sollte sich auf keinen Fall in Schräglage öffnen. Sonst kanns bös ausgehen. Weltweit sind seit 1981 bereits 88 Basejumper in den Tod gesprungen, acht von ihnen im Springer-Mekka Lauterbrunnen BE.
Doch grosse Gefahr vermag Risikosportler nicht von ihrem Tun abzubringen. Im Gegenteil: Viele fühlen sich von Situationen, in denen jeder Fehler schwere oder gar tödliche Verletzungen zur Folge haben kann, unwiderstehlich angezogen. «Es gibt eben Menschen, bei denen das Bedürfnis nach Nervenkitzel als Persönlichkeitsmerkmal markant zu Tage tritt», erklärt Marcus Roth von der Universität Leipzig. Der Psychologe beschäftigt sich seit Jahren mit dem so genannten Sensation-Seeking, also dem Drang nach sensorischer Stimulation, der allen Menschen bis zu einem gewissen Grade eigen ist.
Bei einigen Menschen reicht nun halt ein spannender Film nicht aus, diesen Drang zu befriedigen. Sie brauchen weit höhere Stimulation, um sich wohl zu fühlen - und finden diese zum Beispiel im Risikosport. Eine Rolle spielen dürften auch «ein gewisses Selbstdarstellungsbedürfnis» sowie der Wunsch nach Selbstbestätigung, analysiert Roth weiter: «Man ist stolz, die Angst vor Verletzung und Tod überwinden zu können.»
Und dann ist da der berühmte Kick, das rauschartige Glücksgefühl, für das körpereigene Hormone (Endorphine) verantwortlich sind. Das Max-Planck-Institut hat in einer Untersuchung bei Risikosportlern sechsfach höhere Endorphinwerte festgestellt als bei Normalsportlern.
Bei der Schweizerischen Beratungsstelle für Unfallverhütung (bfu) reagiert man auf das Phänomen Risikosport gelassen. Grund: In gewöhnlichen Sportarten schlagen Unfälle - auch solche mit tödlichem Ausgang - zahlenmässig weit stärker zu Buche. So verloren in der Schweiz von Anfang Januar 2000 bis Ende März 2005 beim Bergsteigen (ohne Klettern), Wandern und Touren-Skifahren 488 Menschen ihr Leben. Fallschirmspringen, Canyoning und Motorrennsport verzeichneten «nur» 26 Todesfälle.
«Wie soll man denn einen Basejumper beeinflussen?»
Man konzentriere die Präventionsaktivitäten deshalb vor allem auf Bereiche wie Wandern und Schneesport, in denen viele Unfälle verhindert werden könnten, sagt Othmar Brügger von der bfu. Zudem: «Wie soll man denn einen Basejumper noch beeinflussen? Er hat sich ja bewusst entschieden, ein hohes Risiko einzugehen.»
Das gilt auch für die 22-jährige Velomechanikerin und Downhill-Bikerin Tabea Brunnschweiler aus Zürich. Sie hat die Risiken ihres Sports schon mehrmals am eigenen Leib erfahren. Bloss: Aufgeben würde sie ihn deswegen nie (siehe Seite 12).
«Ich sah in die Tiefe - und wusste: Da fällst du jetzt hinunter»
Auch schwere Stürze haben die Mountainbike-Abfahrerin Tabea Brunnschweiler nicht bremsen können. Die 22-Jährige arbeitet als Werkstattchefin im Fachgeschäft Velobörse in Zürich-Seebach.
Downhillen ist meine allerliebste Freizeitbeschäftigung. Ich bin fast jedes Wochenende mit meinen Kollegen auf irgendwelchen Pisten in der Schweiz oder im nahen Ausland unterwegs. Manchmal nehme ich an Rennen teil. Doch meine Hausstrecke ist der Zürcher Üetliberg; dort kann ich werktags nach der Arbeit noch hin.
Downhillen macht mir wahnsinnig Spass. In der Regel fahre ich mit meinem 20-Kilo-Bike selber den Berg hinauf und lasse mich nicht von der Bahn transportieren. Auch die Abfahrt ist sportlich anspruchsvoll: Man hat heftige Schläge auszuhalten und muss höllisch aufpassen, dass man den Halt auf den Pedalen nicht verliert.
Die Geschwindigkeit ist berauschend; Downhiller sind temposüchtig. Wenn man eine Piste gut kennt, fährt man sie immer schneller, damit es nicht langweilig wird. 60 bis 70 Stundenkilometer hast du schon manchmal drauf - bei Rennen noch etwas mehr.
Und dann ist da der Kick bei den Sprüngen; das bringts. Und das irrsinnige Gefühl, wenn du ein Hindernis zum erstenmal bezwungen hast. Zudem bist du ganz auf dich allein gestellt, musst das Bike aus eigener Kraft total beherrschen. Sonst wirds gefährlich.
Ich habe eben eine lange Zwangspause hinter mir, weil ich mir die Schulter gebrochen habe. Dabei hatte ich noch Glück: Ich bin Kopf voran in einen Baum gerast und hätte mir auch das Genick brechen können.
Auch wenn das jetzt vielleicht zynisch klingt: Gerade Unfälle und Stürze gehören zu meinen eindrücklichsten Erlebnissen. Das sind Grenzerfahrungen.
Ich war mal im Tessin auf einem Felsweg unterwegs; auf der einen Seite war die Wand, auf der andern gings ziemlich steil hinunter. Plötzlich machte der Biker vor mir eine Vollbremsung. Ich musste ebenfalls abrupt bremsen - und fühlte, dass ich mit dem Fuss ins Leere trat. Ich sah in die Tiefe und wusste: Da fällst du jetzt hinunter.
Ich überschlug mich mehrmals, doch an den Sturz kann ich mich nicht recht erinnern. Ich weiss bloss, dass mein Kollege schrie, ich solle mich festhalten. Irgendwie gelang mir das, ich kriegte nach 15 bis 20 Metern einen Ast zu fassen und konnte wieder hochklettern. Mein Bike war weiter oben hängen geblieben.
Der Schock kam erst, als ich wieder auf dem Weg angelangt war. Ich begann heftig zu zittern. Trotzdem fuhr ich weiter. Es ist die beste Therapie, möglichst rasch wieder aufs Bike zu steigen. Sonst machst du es vielleicht nie mehr.
Angst habe ich keine. Nur Respekt. Aber ich kann verstehen, dass Aussenstehende mich für ein bisschen verrückt halten - allein schon wegen der Verletzungsgefahr. Doch du kannst auch auf dem Weg in die Migros überfahren werden. Da ziehe ich es vor, mir beim Downhillen etwas zu brechen.
«Nach dem Absprung ist der Fels dein Feind»
Letzten Dezember ist er in der Abfahrt von Val-d'Isère auf Platz 2 gefahren. Doch nicht nur Skirennen habens Marco Büchel angetan, auch für Basejumping schwärmt der 33-jährige Liechtensteiner.
Meinen ersten Sprung als Basejumper habe ich 1995 gemacht, und zwar von einer 240 Meter hohen Sendeantenne in Florida. Das Fallschirmspringer-Brevet hatte ich damals schon. Zwei Basejumper, die ich im Vorjahr in den USA kennen gelernt hatte, nahmen mich mit. Sie haben mir einen Schirm angezogen und gesagt: "Jump!" Dann bin ich gesprungen. Ich weiss zwar nicht weshalb, aber ich hatte volles Vertrauen.
Inzwischen liegen rund 300 Sprünge von Brücken, Staumauern, Sendeantennen und Felsen hinter mir. Brenzlige Situationen gab es dreimal: Einmal hat es mich bei einem Salto überdreht und zweimal hat sich der Schirm nicht richtungsstabil geöffnet. Da bin ich den Felsen sehr nahe gekommen.
Der Fels ist nach dem Absprung dein Feind. Heikel wird es meist dann, wenn du den Körper nicht schnell genug in eine stabile Position bringst. Oder wenn der Schirm nicht optimal, das heisst nicht schön symmetrisch gepackt ist. Auch plötzlicher Seitenwind in der Wand ist gefährlich. Deshalb musst du den Wind genau analysieren.
Beim Sprung bin ich in einer anderen Welt - besonders unmittelbar nach dem Absprung, wenn die Felswand unter mir verschwindet und ich spüre, dass es kein Zurück mehr gibt. So etwas erlebst du sonst nirgends. Es ist der totale Genuss, einfach überwältigend, ich kann das nicht in Worte fassen.
Klar, meine Frau Doris hat keine Freude, wenn ich springen gehe. Aber wenn ich dann nach Hause komme und sie das Glänzen in meinen Augen sieht, spürt sie, wie viel mir Basejumping bedeutet. Vielleicht höre ich auf, wenn wir mal Kinder haben. Schluss wäre für mich sicher, wenn es wegen Basejumping zu einer ernsthaften Krise zwischen Doris und mir käme. An meiner Frau hänge ich mehr als am Springen.
Meine Mutter will schon lange, dass ich das Basejumping aufgebe. "Hör auf damit, solange du noch lebst", pflegt sie zu sagen. Mütter machen sich immer Sorgen.
Aber ich springe ja nicht, weil ich lebensmüde bin; ich springe, weil ich das Leben geniessen will. Wenn du dich seriös vorbereitest, ist das Risiko kalkulierbar. Nur leider machen das nicht alle Basejumper so.
Nach Lauterbrunnen, dem Basejumping-Eldorado Europas, kommen viele Chaoten. Sie springen überstürzt und schlecht ausgerüstet, halten sich dabei aber oft für besonders cool und mutig. Dabei sind sie nur dumm. Mich wunderts nicht, dass solche Leute schwer verletzt oder gar tot in der Wand hängen bleiben. Diese Unfälle wären zum grössten Teil vermeidbar.