Tatort Pausenplatz: Der Kleinste kriegt Schläge
Viktor kam häufig mit Blessuren nach Hause: Immer wieder schlugen ihn grössere Schüler. Die Lehrerin stoppte die Übergriffe nicht, kritisiert die Mutter.
Inhalt
Gesundheitstipp 09/2010
12.09.2010
Letzte Aktualisierung:
14.09.2010
Ines Vogel
Es ist der 28. Januar, ein kalter Tag in Urtenen-Schönbühl BE. Auf dem Pausenplatz des Alten Schulhauses rennt ein älterer Schüler am zehnjährigen Viktor (Name geändert) vorbei.
Dabei versetzt er dem Buben einen heftigen Stoss. Viktor knallt auf eine gefrorene Pfütze. Er will sich hochrappeln, doch ein älterer Mitschüler stösst ihn zurück aufs Eis. Ein Schmerz fährt Viktor in den Rücken. Wie heftig der Sturz war, dok...
Es ist der 28. Januar, ein kalter Tag in Urtenen-Schönbühl BE. Auf dem Pausenplatz des Alten Schulhauses rennt ein älterer Schüler am zehnjährigen Viktor (Name geändert) vorbei.
Dabei versetzt er dem Buben einen heftigen Stoss. Viktor knallt auf eine gefrorene Pfütze. Er will sich hochrappeln, doch ein älterer Mitschüler stösst ihn zurück aufs Eis. Ein Schmerz fährt Viktor in den Rücken. Wie heftig der Sturz war, dokumentieren später die Rechtsmediziner des Inselspitals.
Viktor ist ein kleiner, zarter Bub. Er lernt langsam, tut sich schwer mit dem Rechnen und Schreiben. Darum lernt er mit neun Schülern unterschiedlichen Alters in einer Kleinklasse. Er ist der Jüngste. Auch der grosse Schüler, der Viktor zurück aufs Eis gestossen hat, geht in diese Kleinklasse.
Im Schulzimmer gehen die Quälereien weiter. Die Lehrerin lässt die zwei Schüler mit Aufgaben allein. Da greift der Ältere Viktor noch einmal an: Er hält dessen linke Hand fest und rammt ihm einen Bleistift tief in den Handrücken, immer wieder.
So erzählte es Viktor am Abend seiner Mutter, Elena Brand. Diese war entsetzt: Der Bub hatte eine tiefe Schürfwunde am unteren Rücken. Sein linker Handrücken war übersät mit blutunterlaufenen Einstichen.
Elena Brand fuhr mit Viktor ins Inselspital. Am Tag nach den Vorfällen beurteilten die Rechtsmediziner die Verletzungen. Im Bericht heisst es: Die Wunde an der Lendenwirbelsäule «ist am ehesten durch eine seitliche Gewalteinwirkung entstanden».
Auf dem Handrücken stellten die Ärzte «in einem Areal von fünf mal drei Zentimetern teils punktförmige, teils strichförmige (...) Hautdefekte» fest, hervorgerufen durch «halbscharfe Gewalteinwirkung».
Die Mutter sprach mit der Lehrerin. Elena Brand berichtet: «Sie behauptete, Viktor sei auf dem Pausenplatz wohl von allein gestürzt. Die Einstiche habe er sich selbst zugefügt.»
Der Zürcher Kinder- und Jugendpsychologe Res Wepfer sagt: «Bei mehreren Einstichen im selben Bereich ist es sehr unwahrscheinlich, dass der Bub sich diese selbst zugefügt hat.» Zudem würden Kinder Misshandlungen extrem selten erfinden. Wepfer fügt hinzu: «Kinder, die langsamer im Denken sind, werden oft Opfer von Mobbing und Gewalt.»
Nasse Kleider und blaue Flecken
Es waren nicht die ersten Übergriffe auf Viktor, sagt die Mutter. Seit zwei Jahren hätten die zwei älteren Schüler den Buben immer wieder gequält. Mehrmals sei Viktor mit nassen Kleidern heimgekommen: «Die Grösseren hatten seine Jacke in einen Brunnen geworfen.»
Immer wieder hätten sie ihn geschlagen. Auch nach den Vorfällen im Januar fanden die Rechtsmediziner des Inselspitals an Viktors Körper zahlreiche ältere blaue Flecken. Elena Brand kritisiert: «Die Lehrer beaufsichtigten den Pausenplatz zu wenig.»
Immer wieder wandte sich Elena Brand an die Lehrerin. Doch die Lehrerin schob dem Zehnjährigen einen grossen Teil der Verantwortung zu: «Sie sagte, der Bub solle sich selbst verteidigen. Viktor trage seinen Teil zu den Vorfällen bei.» Elena Brand ist empört: «Selbst wenn mein Sohn die Älteren mit Worten provoziert hat, dürfen sie ihn nicht schlagen.»
Die Schule hätte die Gewalt stoppen müssen
Experten sind sich einig: Lehrerin und Schulleiterin hätten die Gewalt in der Schule stoppen müssen. «Wenn sich eine Lehrperson nicht zutraut, Mobbing in der Schulklasse zu unterbinden, sollte sie sich Unterstützung holen – etwa bei der Schulleitung oder bei externen Fachpersonen», sagt Andrea Hauri von der Stiftung Kinderschutz.
In Urtenen-Schönbühl gelang es Eltern und Lehrern nicht, die Probleme zu lösen. Elena Brand wandte sich an die kantonale Erziehungsberatung Ittigen. Auf Drängen der Mutter kam Viktor vorübergehend in ein anderes Schulhaus. Dann suchte die Mutter für ihn eine neue Schule. Seit August besucht Viktor die Kleinklasse einer Privatschule. Elena Brand ist erleichtert: «Dort fühlt er sich wohl.»
Die Schulleiter der Schule Urtenen-Schönbühl wollten bis Redaktionsschluss zur Kritik der Mutter im Einzelnen keine Stellung nehmen. Sie betonten jedoch, dass sie die Kritik an der Lehrerin und an der Pausenaufsicht «in aller Form zurückweisen». Alle Lehrpersonen genössen «volles Vertrauen» und alle Beteiligten von Schulangelegenheiten würden «ernst genommen».
Tipps: Gewalt in der Schule – So helfen Sie Ihrem Kind
- Nehmen Sie Ihr Kind ernst, wenn es von Misshandlungen berichtet.
- Notieren Sie sich die Vorfälle mit Datum.
- Gehen Sie mit dem Kind zum Arzt, wenn es körperlich oder seelisch verletzt ist. So haben Sie später einen Beweis.
- Sprechen Sie mit dem Lehrer. Falls das nicht hilft: Wenden Sie sich an die Schulleitung, den Schulpsychologen oder den Schulsozialarbeiter.
- Falls Sie die Eltern der Täter kennen: Sprechen Sie mit ihnen.
- Es steht Ihnen offen, den Täter anzuzeigen. Dann ermittelt die Polizei.
- Falls nichts hilft, lassen Sie das Kind in eine andere Klasse oder Schule versetzen.
Informationen und Beratung: