«Wir fühlten uns mit Hashimoto allein gelassen»
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Gesundheitstipp 2/2001
01.02.2001
Lilo Blaser und ihr Partner über den Alltag mit der seltenen Störung des Gehirns
Erschöpfung, Zittern, Lähmungen - Lilo Blaser, 52, ging von Arzt zu Arzt, doch keiner konnte ihr helfen. Hashimoto-Encephalopathie: Der Name dieser seltenen Krankheit steht für eine zehnjährige Leidensgeschichte.
Fridy Schürch redaktion@pulstipp.ch
Lilo: Früher war ich sportlich und aktiv. Wo man Hilfe brauchte, war ich zur Stelle. Heute bin ich sehr schnell ersch...
Lilo Blaser und ihr Partner über den Alltag mit der seltenen Störung des Gehirns
Erschöpfung, Zittern, Lähmungen - Lilo Blaser, 52, ging von Arzt zu Arzt, doch keiner konnte ihr helfen. Hashimoto-Encephalopathie: Der Name dieser seltenen Krankheit steht für eine zehnjährige Leidensgeschichte.
Fridy Schürch redaktion@pulstipp.ch
Lilo: Früher war ich sportlich und aktiv. Wo man Hilfe brauchte, war ich zur Stelle. Heute bin ich sehr schnell erschöpft und kann mich nicht mehr konzentrieren. Ich bin zwar immer noch gerne mit Menschen zusammen. Aber mehr als sechs bis acht Leute um mich herum ertrage ich inzwischen nicht mehr.
Reinhart: Ja, du warst eine Power-Frau. Es musste immer etwas laufen. Wir hatten ein offenes Haus. Kein Vergleich zu heute. Deinen Humor hast du zum Glück behalten.
Lilo: Das ganze Debakel begann vor zehn Jahren. Damals half ich dir noch in deinem zahntechnischen Labor. Doch dann ermüdete ich immer schneller, wurde kraftloser. Ich war nicht mehr unternehmungslustig. Plötzlich hörte ich auf dem linken Ohr nichts mehr. Mein Ohrenarzt stellte einen Hörsturz fest. In der Uniklinik in Zürich wurde mein Ohr mit Sauerstoff behandelt. Es half nichts. Neurologen untersuchten mich weiter. Die Ärzte standen vor einem Rätsel. Ich hatte die Untersuchungen satt, hatte das Gefühl, als Simulantin abgestempelt zu sein.
Reinhart: Wir wussten überhaupt nicht, was mit dir passiert ist. Du hast nur noch geschlafen. Wenn du aufgestanden bist, hattest du zittrige Knie. Zweimal bist du sogar hingefallen. Du warst depressiv, hast zugenommen, obwohl du fast nichts gegessen hast. Da wusste ich, dass ich etwas unternehmen muss. Ich meldete dich beim Hausarzt an. Er vermutete, dass du eine SchilddrüsenUnterfunktion hast. Das bestätigte sich später.
Lilo: Bei meinem Hausarzt fühlte ich mich immer gut betreut. Er überwies mich an einen Spezialisten ins Kreisspital Männedorf. Dieser bestätigte die Diagnose Hashimoto-Schilddrüsen-Unterfunktion. Ich bekam das Medikament Eltroxin verschrieben. Von da an ging es mir besser. Ich konnte wieder Tennis spielen, Ski fahren und walken.
Reinhart: Kaum hatte sich dein Zustand gebessert, klagtest du über Muskelschmerzen und Müdigkeit. Dann hattest du grosse Probleme mit deinem linken Knie. Eine Operation war nötig. Nach der Knieoperation brachtest du dich mit intensivem Fitnesstraining wieder in Form. Dann kamen die Schmerzen an deiner linken Schulter, am Arm und an der Hand. Und erneut musstest du unters Messer. Du hast das alles mitgemacht, ohne gross zu klagen.
Lilo: Du warst ja auch nie ungeduldig mit mir. Ich glaube du hast so mit mir gelitten, dass ich nur die Hälfte der Schmerzen spürte. Zum Glück haben wir auch liebe Bekannte. Sie sind uns in all den Jahren beigestanden.
Reinhart: Nach der Operation ging es dir eigentlich wieder recht gut. Natürlich, der Arzt verschrieb dir gegen die Schmerzen Kortison. Davon wurdest du ein bisschen runder.
Lilo: Du hast mir aber nie das Gefühl gegeben, nicht mehr begehrenswert zu sein. Anfang 1999 wurde es mir jeweils beim Autofahren schwindlig. Ich konnte die Breite der Fahrspur nicht mehr richtig einschätzen. Und jedesmal wenn ich mich hinlegte, bekam ich starke Kopfschmerzen. Ohne Medikamente konnte ich überhaupt nicht mehr schlafen. Schliesslich wurde mir auch beim Gehen schwindlig.
Ein schlimmes Erlebnis hatte ich im Einkaufszentrum. Plötzlich überfiel mich ein Kribbeln im Kopf. Meine linke Körperseite fing an zu zittern. Ich wusste nicht mehr, wo ich war. Meinen Namen wusste ich jedoch gerade noch. Mein erster Gedanke war: Wie sage ich dir, dass mit mir schon wieder etwas nicht stimmt. Am 11. Juni hatte ich dann einen Zusammenbruch. Meine linke Körperseite war gelähmt. Im Spital Uznach wurde ein Magnet-Resonanz-Image (MRI) gemacht. Vier Wochen später kam ich ins Kantonsspital St. Gallen. Der Befund der MRI-Untersuchung wies auf Hashimoto-Encephalopathie hin.
Reinhart: Du warst zwei Wochen in der Klinik. Für mich war das eine happige Zeit. Die Ungewissheit - und dazu täglich zwei Stunden Hin- und Rückfahrt. Du konntest dich nur noch im Rollstuhl fortbewegen und hattest dauernd Schwächeanfälle. Die Ärzte machten mich noch konfuser. Sie konnten mir nicht genau sagen, was mit dir los ist. Vorerst vermuteten sie Multiple Sklerose. Weitere Tests stellten dann auch Hashimoto in Frage.
Lilo: Wenn du dich in dieser Zeit nicht für mich eingesetzt hättest, wäre ich vollkommen ratlos gewesen.
Reinhart: Du warst im Rollstuhl. Ich habe mir wahnsinnige Sorgen um dich gemacht. Dann schaltete ich meinen Neffen ein, der in Deutschland Neurologe ist. Unser japanischer Freund erkundigte sich in Tokio über die Krankheit und liess uns Dokumente zukommen. So erfuhren wir, dass ohne starke Kortison-Behandlung keine Besserung eintritt. Es ist enorm wichtig, schnell zu reagieren.
Lilo: Wir fühlten uns von den Neurologen allein gelassen. Wir wussten nicht, dass es fast keine Literatur über diese seltene Krankheit gibt. Ein Arzt, den ich wegen meiner Schilddrüse konsultierte, schrieb in seinem Bericht an den Hausarzt: Hashimoto ist eine Wunschkrankheit der Kliniken und Neurologen. Ich rastete total aus.
Reinhart: Du hast dann mit der Kortison-Therapie angefangen. Während den ersten fünf Tagen musstest du 500 mg einnehmen. Dann ein Jahr lang alle zwei Monate etwas weniger.
Lilo: Am meisten zu schaffen machten mir die Zitteranfälle. Mein Hausarzt und dein Neffe organisierten einen Termin in der Epi-Klinik in Zürich. Die Tests ergaben, dass meine Anfälle nichts mit Epilepsie, sondern mit zerebralen Teilleistungsschwächen zu tun haben.
Reinhart: Du musstest dann das Kortison absetzen, weil du starke Magenschmerzen bekamst. Danach bekamst du starke Blutungen in deinen Augen.
Lilo: Das war schlimm. Da drehte ich manchmal fast durch.
Reinhart: Manchmal hatte ich schon Mühe, weil du so aufgedreht warst und überreagiert hast. Zeitweise konnte ich sagen, was ich wollte, es war einfach alles falsch. Als ich dann aber im November 2000 erfahren habe, dass du an beiden Augen den grauen Star operieren musst, hatte ich wieder Verständnis für deine Reizbarkeit.
Lilo: Ja, Schatz, das bringt alles diese Krankheit. So war ich vorher nicht. Seit ich zur Psychologin gehe und den ganzen Mist abladen kann, geht es mir wieder besser. Ich glaube, dass ich dich so etwas entlasten kann. Du brauchst ja schliesslich deine Energie und Kraft auch für deine Arbeit.
Hashimoto-Encephalopathie - Die seltene Krankheit gibt den Ärzten noch viele Rätsel auf
Bei der Hashimoto-Encephalopathie handelt es sich um eine Funktionsstörung des Gehirns. Die Störung tritt auf als Begleiterscheinung einer Schilddrüsen-Entzündung, der so genannten Hashimoto-Thyoriditis.
- Der Name stammt vom japanischen Arzt Hashimoto, der diese seltene Krankheit erstmals beschrieben hat. Nicht jede Schilddrüsen-Entzündung und auch nicht jede spezielle Hashimoto-Erkrankung entwickelt Zeichen einer Hirnfunktionsstörung.
- Die Ursache der Krankheit ist unklar. Ebenso weiss man erst wenig über den Zusammenhang der Hirnfunktionsstörung und der Schilddrüsen-Entzündung. Viele Befunde und Labortests weisen darauf hin, dass eine Überfunktion des Immunsystems (Autoimmunkrankheit) die Ursache sein könnte.
- Die Krankheit ist sehr selten. Zahlen über die Häufigkeit in der Schweiz oder in Europa sind nicht bekannt.
- Die Symptome sind ganz unterschiedlich und umfassen - ähnlich wie bei der Alzheimer-Krankheit - geistigen Abbau, epileptische Krampfanfälle, psychische Symptome wie Depressionen, Angstzustände und Bewusstseinsstörungen. Meistens entwickeln sich diese Zeichen langsam zunehmend, über viele Wochen und Monate.
- Die Diagnose zu stellen ist schwierig. Zuerst muss der Arzt viele andere entzündliche, toxische oder stoffwechselbedingte Erkrankungen des Hirns ausschliessen.
- Frauen sind häufiger betroffen als Männer.
- Die Krankheit lässt sich gut mit Kortison oder ähnlichen Präparaten beeinflussen. Oft verschwinden die Symptome längerfristig teilweise, bestenfalls völlig.
- Die Fachliteratur über diese Krankheit ist spärlich. Informationen dazu sind am ehesten in neurologischen Fachzeitschriften zu finden.