«Wir haben im Kino immer freie Sicht»
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Gesundheitstipp 11/2000
01.11.2000
Vreni (38) und Erhard (46) Heider über den Alltag als Grosswüchsige
«Wie ist das Wetter dort oben?»: Solche Sprüche musste Vreni Heider als Kind oft hören. Sie ist 1,87 Meter gross, ihr Mann Erhard 1,96. Im Kino hat das zwar Vorteile, aber beim Schuhekaufen haben lange Menschen ein Problem.
Isabelle Meier redaktion@puls-tip.ch
Vreni: Der erste Schultag war ein Horror. Wir Erstklässler standen dicht gedrängt vor der geschlossenen Schultüre. Da...
Vreni (38) und Erhard (46) Heider über den Alltag als Grosswüchsige
«Wie ist das Wetter dort oben?»: Solche Sprüche musste Vreni Heider als Kind oft hören. Sie ist 1,87 Meter gross, ihr Mann Erhard 1,96. Im Kino hat das zwar Vorteile, aber beim Schuhekaufen haben lange Menschen ein Problem.
Isabelle Meier redaktion@puls-tip.ch
Vreni: Der erste Schultag war ein Horror. Wir Erstklässler standen dicht gedrängt vor der geschlossenen Schultüre. Da rief plötzlich hinter mir jemand: «Sieh mal da vorne, die repetiert sicher bereits zum dritten Male.» Ich war ein Kopf grösser als alle andern, und die meisten Leute stuften mich viel älter ein.
Erhard: Kinder können brutal sein.
Vreni: Und wie! Haben Sie Dich nie gefragt: «Sag mal, wie ist das Wetter dort oben?»
Erhard: Nein, nicht so direkt.
Vreni: Haben sie dir nie Leuchtturm nachgerufen? Oder Bohnenstange? Zum Glück haben mich meine Eltern immer darin bestärkt, dass ich die Grösse nicht so ernst nehmen soll.
Erhard: Ich bin erst mit 13 Jahren nochmals ein starkes Stück gewachsen. Gehänselt wurde ich darob weniger.
Vreni: Da hatte ich es als Frau schwieriger. Als ich 14 Jahre alt war, riet unser Hausarzt meinen Eltern, mein Wachstum nicht mehr einfach hinzunehmen. Ich wäre seiner Meinung nach etwa 2,05 Meter gross geworden. Während zwei Jahren schluckte ich deshalb Hormone, mit dem Resultat, dass ich innert sechs Monaten die gesamte Pubertät durchmachen musste. Ich war vorher lang und schlacksig gewesen, eigentlich ein Knochengestell. Innert sehr kurzer Zeit entwickelten sich die Hüften und der Busen. Das war psychisch nicht einfach zu verkraften. Meine Mutter schimpfte oft, ich sei unausstehlich. Dafür pendelte sich meine Grösse auf 1,87 Meter ein. Ich war erleichtert.
Erhard: Körperlich machte ich in meiner Pubertät Ähnliches durch. Ich wuchs dauernd. Muskeln und Gelenke konnten kaum mithalten. Die Schwachstellen waren eindeutig die Kniescheiben, das Hüftgelenk und die Bandscheiben. Mit 15 Jahren hatte ich einmal den Rücken zu stark belastet, das hat mir bös zugesetzt. Heute weiss ich, wie ich meinen Rücken schonen kann. Seither habe ich keine körperlichen Probleme mehr.
Vreni: Und dann heisst es noch, grosse Menschen seien starke Menschen. Das ist ja fast ein Witz.
Erhard: Ich erlebe das immer wieder. Die Menschen assoziieren Grösse mit Belastbarkeit. Das ist ein Klischee.
Vreni: Das Gegenteil traf auf mich zu: Ich fühlte mich früher weder stark noch belastbar. Meine Grösse machte mir zu schaffen. Welcher Mann will denn eine grosse Frau? Da hattest du vermutlich weniger Probleme.
Erhard: Vielleicht ...(überlegt) Aber wenn ich mit einer kleineren Frau ausging, zum Tanzen etwa, konnte ich ihr nicht ins Gesicht schauen - ihr Kopf reichte mir nur bis zur Brust. Reden war auch schwierig, da ich schlecht höre. Es ist viel schöner, mit einer ähnlich grossen Frau zu tanzen.
Vreni: Ich tanze ebenfalls lieber mit einem grösseren Mann. Aber um ehrlich zu sein: Die Grösse ist sonst nicht zentral für mich. Ich hätte ebenso einen kleineren Mann heiraten können. Aber mit einem grösseren ist es natürlich schöner. Wir können doch überall hingehen, an ein Konzert oder an die Fasnacht. Wir sehen immer nach vorne.
Erhard: Die Kleineren haben im Gedränge mehr Probleme als wir.
Vreni: Wenn allerdings ein Vorgesetzter kleiner ist, kann das ungemütlich sein. Einmal hatte ich einen Chef, der meinte, ich sei arrogant, weil ich so viel grösser war als er.
Erhard: Dieses Problem habe ich nicht. Ich rage überall heraus und werde als Verantwortlicher angeschaut. Das hat seine Vorteile. Früher vielleicht weniger: Die Lehrer schimpften oft zu Unrecht nur mit mir, wenn wir Buben einen Streich verübt hatten.
Vreni: Und dann diese Sprüche. Ich kann sie nicht mehr hören. Als ich als Traiteur-Verkäuferin arbeitete, rutschte es einmal einer Kundin heraus: «Ich wusste gar nicht, dass es hier Böckli für die Verkäuferin gibt.» Oder eine andere: «Läck, da muss man ja weit zu Ihnen hinaufschauen.»
Erhard: Was erwiderst du auf solche Sprüche?
Vreni: Früher trafen sie mich immer. Mittlerweile habe ich mir eine dickere Haut zugelegt und antworte: «Läck, da muss ich ja weit hinunterschauen.»
Erhard: Mir gegenüber getrauen sich die Leute weniger. Dafür setzen mir die Möbel zu. Im Spiegel im Badezimmer zum Beispiel hätte ich mich nie anschauen können. Den mussten wir stark nach oben versetzen. Das Abwaschbecken ist eine Tortur, das lässt sich nicht verschieben.
Vreni: Du kannst wenigstens beim Abwaschen den Kopf an die Wand lehnen, damit dein Rücken etwas entlastet wird.
Erhard: Aber das Abwaschen bleibt unangenehm. Die normalen Betten wären für uns auch viel zu klein. Da habe ich ein «Kingsize» in den USA bestellt. Die sind 2,10 m lang. Doch jetzt gibt es auch in der Schweiz einige Möbelhäuser, die speziell grosse Betten anfertigen.
Vreni: Zum Glück haben wir noch keine Probleme mit den Türen. Wir kommen gerade noch durch.
Erhard: In unserem neuen Haus bauen wir vieles ein wenig anders.
Vreni: Der Kochherd und die Spüle müssen mindestens fünf Zentimeter höher stehen, ebenfalls das Lavabo. Ich möchte ausserdem keine hängenden Lampen mehr. Ich schlage sonst garantiert den Kopf daran an. Wie ist es eigentlich bei dir mit der Raumhöhe?
Erhard: Ich finde, die geht gerade noch. Üblich sind etwa 2,30 Meter. Das reicht. Aber das Balkongeländer muss höher sein. Es reicht mir nur bis zum Oberschenkel.
Vreni: Für mich sind die Kleider das grösste Problem. Ich finde es eine Frechheit, dass ich für längere Jeans mehr bezahlen muss als für normal lange. Mir ist schon klar: Von den normalen kann mehr produziert werden. Deshalb sind sie billiger. Dennoch: Es leuchtet mir nicht ein, dass ich für meine Grösse auch noch finanziell bestraft werden muss. Und dann die Schuhe. Wo gibt es eine Grösse 44 oder für dich gar eine 46? Das ist das grösste Problem.
Erhard: Der Kasten ist voll von deinen Schuhen. Es gibt also doch genug, oder nicht? (lächelt)
Vreni: (lacht) Ich greife eben immer sofort zu, wenn ich ein Paar sehe. Ob sie mir gefallen, ist dann zweitrangig. In Skandinavien hätte ich es leichter. Dort gibt es viele Menschen mit grossen Füssen.
Erhard: Du kannst auch die Mitglieder vom Klub langer Menschen fragen. Einige wissen, wo es grosse Schuhe gibt, grosse Schlafsäcke, grosse Kleider usw. Das ist ganz nützlich.
Vreni: Wir müssen uns auch Gedanken über unser Kind machen. Michael ist jetzt vier Monate alt.
Erhard: Dein Vater war zwei Meter gross, dein Bruder 2,05.
Vreni: Deine Eltern waren allerdings normal gross.
Erhard: Mein Grossvater mütterlicherseits war auch sehr gross.
Vreni: Grösse wird sicher vererbt. Die Frage ist nur, ob unser Kind oder erst wieder unsere Enkel sehr gross werden. Unser Hausarzt meinte, die Grösse im Erwachsenenalter lasse sich mit zwei Jahren am Mittelhandknochen des Kindes herausfinden.
Erhard: Wärest du für einen Hormonstopp, wenn er zu gross würde?
Vreni: Wenn er über zwei Meter würde, dann sicher.
Grosswuchs - Ein Wechselspiel von Genen, Hormonen und Ernährung
Statistiken der letzten Jahre ergaben, dass die Menschen immer grösser werden. Das liegt auch an unserer gesunden Ernährung.
- Das Grössenwachstum wird vererbt. Kinder von grossen Eltern sind in der Regel ebenfalls gross. Daneben braucht der Körper jedoch, um wachsen zu können, eine bestimmte Menge an Eiweiss, Calcium und Vitaminen.
- Zuständig für die Grösse sind verschiedene Hormone. Ist das Wechselspiel unter ihnen gestört - produziert etwa der Körper ein Hormon zu viel -, kann das ebenfalls zu Grosswuchs führen.
- Diese Tatsache nimmt man bei Korrekturen zu Hilfe. Organe, die zu viel Hormone produzieren, lassen sich operativ verkleinern, oder dann können Betroffene Hormone einnehmen, die das Längenwachstum behindern.
- Grosswüchsige haben sich weltweit in Klubs zusammengeschlossen. In der Schweiz führt der Klub langer Menschen (KLM) Sektionen in Basel, Bern, Luzern und Zürich. Er zählt rund 500 Mitglieder. Gemäss europäischem Standard dürfen Frauen mit über 1,80 Meter und Männer mit über 1,90 Meter Grösse Mitglieder werden.
Weitere Auskunft gibt der Präsident des KLM, Christian Senft, Hohe Winde-Strasse 25, 4059 Basel, Tel. 061 361 64 60, oder info@klm-schweiz.ch